Oh je, sie spricht mit mir. Sie spricht sehr viel und sehr schnell und ich habe erst ab der Hälfte irgendwas mitbekommen. Ich muss sie ganz schön merkwürdig angucken, denn ihr Blick wird fragend. Dabei zieht sie ihre Augenbrauen leicht zusammen, bis sich die Haut zwischen ihnen leicht zu kräuseln beginnt. „Sag mal, geht's dir gut? Du siehst so..." setzt sie an. Ich schüttele den Kopf. Ich bin überfordert und will eigentlich nur allein sein, sagt mein Kopf, also greife ich instinktiv nach meinem Tablet und schiebe im Aufstehen den Stuhl zurück. „Es ist frei, ich mein, du kannst den Platz gern haben." Sage ich noch im

Gehen und bin eh ich mich versehe außer Hörweite des Mädchens.

Kurz darauf finde ich mich in der Schulbibliothek wieder. Ich habe mich in eine der hinteren Ecken verkrümelt. Hier ist es still und muffig. Mein Platz zwischen Naturwissenschaften M bis S und Klassiker der Literatur wird durch einen Fleck Licht beschiene , der durch eins der hoch gelegene Glasfenster auf den Boden fällt. Draußen haben sich die Wolken verzogen. Die Sonne scheint. Ich habe das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Ich hätte vermutlich bleiben sollen, mit Menschen ins Gespräch kommen und so, aber manchmal überfordern mich viele Menschen und besonders neue Situationen finde ich potenziell unheimlich.

Hunger habe ich trotzdem noch, also fische ich einen angedrückten Schokoriegel aus meiner Schultasche und reiße die Verpackung auf. Die Schokolade ist warm und weich in meinem Mund. Tröstlich irgendwie und einen Moment lang vergesse ich, wieso ich hier bin und was im letzten Jahr alles passiert ist. Ich vergesse, dass Papa jetzt nicht mehr richtig Papa ist und Zuhause nicht mehr Zuhause.

In mir fehlt etwas. Es ist tief und schmerzhaft und lässt sich nicht mit Schokolade füllen.

Als ich den letzten Bissen herunterschlucke, hat es bereits zum zweiten Mal gegongt. Ich habe gleich Deutschunterricht und weiß nicht, wo mein Raum ist. Auch wenn ich mich beeilen sollte, muss ich auf dem Weg einige Male anhalten und meine Socken hochziehen. Ein Sinnbild meiner mentalen Verfassung. Dann finde ich den Raum und bete, dass sie verbleibende Zeit heute gut umgehen wird.

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Verdutzt sitze ich an dem Tisch und schaue ihren roten Locken hinterher, die fröhlich auf und ab hüpfen mit jedem schnellen Schritt des Mädchens. Wie ironisch. Ich wollte nur nett sein, aber gut, sie kann sich auch gern ohne Tipps und Tricks hier durchschlagen. Learning by doing, doing wrong in dem Falle. Aber das ist jetzt ihre Sache. Ich mache mich auf den Weg zu meinen Freunden, die mich erwartend ansehen. Ich zucke nur mit den Schultern, ich fühle mich irgendwie nicht nach Konversation. Mein Magen fühlt sich flau an, und ich bin mir nicht sicher, ob es von dem undefinierbaren Essen, dass mein Magen nach den langen Sommerferien mit italienischer Pizza, Pasta und ganz viel Gelato nicht mehr gewohnt ist, oder ob es an der Interaktion mit der Neuen liegt. Ich kenne nicht mal ihren Namen.

Emilia macht uns alle darauf aufmerksam, dass die Mittagspause in 10 Minuten vorbei ist, und wir bringen schnell unsere Tablette mit den Tellern zur Abgabe, bevor wir uns auf den Weg zum Unterrichtsraum machen. Deutsch steht als Nächstes auf dem Stundenplan, und obwohl ich das Fach eigentlich ganz gerne mag, fühle ich mich bei dem Gedanken, 1.5 Stunden in einem mit dunklen Holzmöbeln eingerichteten, stickigem Klassenzimmer zu sitzen, wie ein Luftballon mit einem Loch, dem immer mehr Luft entweicht.

Jesus guckt mich anklagend von seinem Kreuz über der Tür an, und ich gucke schnell wieder nach unten, bevor ich pflichtbewusst über meine Haare streiche und überprüfe, dass die Zöpfe weiter perfekt sitzen. Die Handgriffe sitzen wie in Trance.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 07, 2023 ⏰

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