Der Wecker klingelte viel zu schrill in meinen Ohren, und die ersten Sekunden bin ich völlig desorientiert, bevor ich benommen die Hand ausstrecke und blind nach dem viel zu lauten Objekt taste. Die Stille danach ist die laute Art, die, die man hypersensibel und bewusst wahrnimmt. Es ist gerade so dämmerig in meinem Zimmer, in dem Licht des anbrechenden Tages lassen sich die Konturen der Möbel nur schemenhaft erkennen: Ein Schrank, ein Schreibtisch mit Stuhl, ein paar Klamotten achtlos auf dessen Sitzfläche geschmissen, ein Regal mit Büchern und einer Plastikpflanze, ein paar Bilder an den Wänden. Und natürlich das Kreuz über der Tür, das sich schwarz von der weißen Wand abhebt. Schlagartig wird mir bewusst, was heute für ein Tag ist, und ich habe das Bedürfnis, mich unter einem Deckenberg zu begraben und nie wieder darunter hervorzukommen. Es ist der erste Schultag nach den Ferien. Es ist surreal früh, eine Uhrzeit, die mein Kopf die letzten 6 Wochen einfach nicht gewohnt war. Ich kam zwar schon vor ein paar Tagen wieder im Internat an - aber da war ja noch Freizeit. Jetzt muss ich um 6 zum Morgengebet erscheinen, auf die Minute pünktlich, in Schuluniform, mit adäquaten Schuhen und Frisur. Mühsam quälte ich mich aus dem Bett und machte mich fertig - die Handgriffe sitzen sogar im Halbschlaf inzwischen. Aber was will man auch erwarten, nach all den Jahren... Meine Eltern, streng christlich, schickten mich schon mit 10 Jahren auf das katholische Mädcheninternat im Schwarzwald. Jetzt bin ich 17, habe mich also schon ganz gut eingelebt. Ich laufe die Treppen zum Hof hinab, stelle mich neben meine Freunde und warte auf das Erscheinen der Schuldirektorin, um das Morgengebet zu sprechen. Danach wird es denselben labbrigen Toast mit undefinierbarer Marmelade zum Frühstück geben wie immer, und dieselben Unterrichtsfächer bei denselben Lehrern wie immer. Alles beim Alten. Den Drang, auszureißen, etwas zu verändern und laut schreien zu wollen, unterdrücke ich. Ich bin über die Jahre gut darin geworden.
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"Ich kann nicht, ich muss kurz anhalten" rufe ich in der Hoffnung, dass mein Vater mich noch hört. "Wieso das?" Schreit er über die Straße zurück. Ich hüpfe verkrampft auf einem Bein und ziehe am Bündchen meiner rechten Socke „Knitter" antworte ich und hüpfe noch ein paar Schritte nach vorne.
Ich kann das einfach nicht ertragen. Dieses Gefühl, wenn Socken beim Laufen in die Schuhe rutschen und dann Falten schlagen. Leider hat jemand, als ich die Schuluniform ausgehändigt bekam, wohl einen Fehler gemacht. Ich habe Schuhgröße 38, das hier sind Socken für eine 41. Außerdem regnet es und ich habe keinen Schirm. Na super, so beginnt der Tag ja toll. Gehetzt reiße ich die Tür zu Papas Auto auf, der mich vom Fahrersitz her über die Schulter anschaut, dann aufs Gas tritt und über den nächsten Kreisel fährt, als wäre es eine Kreuzung und wir in einem Autoscooter. Für gewöhnlich könnte ich auch laufen, es ist nicht weit bis zu meiner neuen Schule, aber ich kenne den Weg noch nicht, draußen schüttet es mittlerweile und ich habe irgendwie verpeilt, dass es um 7:45 zum Morgengebet geht und nicht eine halbe Stunde später, wie ich annahm. Als ich die Tür des Autos zufallen lasse und mit über den Kopf gezogener Strickjacke renne, schlägt dir Uhr der Schulkapelle 8. Das Gelände ist groß, von dem, was ich auf den ersten Blick sehen kann und umzäunt von verschnörkelten, schmiedeeisernen Stangen. Ich werde hier eine der Externen sein, also nicht im Internat leben, sondern nach dem Unterricht heim fahren können. Vermutlich gar nicht so schlecht denke ich und verziehe den Mund als ich kurz unaufmerksam bin und eine Pfütze übersehe. Vor der Tür der Kapelle halte ich kurz inne und warte ab. Ich könnte auch einfach direkt in den Unterricht gehen und sagen, ich hätte es nicht besser gewusst. Aber hier angenommen zu werden, hatte mich bereits zu viele Nerven gekostet, als dass ich es durch einen schlechten ersten Eindruck aufs Spiel setzen wollen würde. Ich werde einfach ganz vorsichtig die Tür öffnen, in eine der letzten Reihen schlüpfen und so tun, als ob ich immer da gewesen wäre. Ein letzter tiefer Atemzug, dann lehne ich mich gegen die Tür, die schwer und alt ist. „Amen", sagt jemand in diesem Moment „Amen" antwortet ein Chor klarer Mädchenstimmen aus den Bankreihen. Alle haben ihre Köpfe gesenkt und schauen auf verschränkte Finger. Alle in Uniform, alles mit geschlossenen Haaren. Ich bin einen Moment lang so fasziniert von der Szene, dass ich die Tür vergessen. Dann tut es einen lauten Schlag und sie fällt ins Schloss. Alle Köpfe drehen sich schlagartig um und schauen mich an. Ich möchte am liebsten im Boden versinken. Stattdessen hebe ich die Hand und... winke. Ich winke! Dann lasse ich mich in die letzte Bank fallen und bemerke, dass mein Rock hinten nass ist. Egal, alles egal, denke ich und atme erstmal. „Er sieht alles." zischt mir ein Mädchen mit langen blonden Zöpfen neben mir zu, wendet sich dann wieder ab und rümpft spürbar angeekelt die Nase. Ich weiß nicht, ob ich lachen, oder mich schämen sollte. Vielleicht beides, aber ersteres sicher nicht hier und nicht jetzt. Ich versuche unauffällig den Schuh auszuziehen, mit dem ich in die Pfütze getreten bin. Die Socke, die ohnehin viel zu groß ist, ist jetzt auch noch nass. „Amen", sage ich beim nächsten Gebet, lasse mich segnen und frage mich, wieso die höhere Macht mich heute hasst.
Bis es Zeit für Mittagessen ist, habe ich schon einen halben Marathon hinter mir. Rundgang durch die für mich wichtigen Gebäude inklusive Vertrauensschülerin mit glitzernder Kreuzkette und personalisierter Schulbibel, Vorstellung in meiner Klasse, organisatorisches in den Pausen, zweimal das Schließfach verwechsel und meine rechte Socke unter dem Handtrockner in der Toilette föhnen, damit sie nicht mehr nass ist. Ich lasse mich unelegant an einen der Tische an der Wand sinken. Hier gibt es nur zwei Stühle, ich sitze allein. Zu Mittag gibt es Möhrensuppe mit Einlage, von der niemand weiß, was genau es ist und ob es mal gelebt hat. Ich schlurfe und tunken mein halbes Brötchen immer wieder in die Suppe. Sie ist nicht besonders heiß und nicht besonders lecker, aber es ist schon okay. Ich beobachte die Mädchen um mich. Sie sind ganz unterschiedlich alt, das Sankt Jorah MädchenInternat für religiöse Bildung und Erziehung beherbergt etwa 400 Schülerinnen in drei Jahrgangsstufen. So hatte es in der Broschüre gestanden. Es bietet sich den Schülerinnen eine einzigartige Chance, ihren Geist zu stärken, ihren Glauben gemeinsam zu teilen und akademisch bestens gefordert zu werden. Über das Essen hatte allerdings niemand etwas geschrieben. Schade. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie sich jemand auf meinen Tisch zubewegt. Ich schaue statisch in meine Suppenschüssel und hoffe, dass derjenige einfach vorbeigeht. Mir ist nicht so nach Gesellschaft. Meine Gebete werden nicht erhört. „Ist hier noch frei?" höre ich sie noch fragen. Ohne eine Antwort abzuwarten, wird der Stuhl im nächsten Moment aber bereits abgerückt und jemand lässt sich darauf nieder. Ich schaue auf.
Beim Mittagessen sitze ich mit meiner Freundesgruppe zusammen. Egal wie hart und teilweise unerträglich dieses Internat auch sein kann - wir haben es immer gemeinsam durchgestanden. Emilia, die zwar klein ist, aber einen umso größeren Charakter hat, hat grade einen Witz zum besten gebracht, und wir kichern alle. Die zweite in unserer Gruppe ist Mila, ein schüchternes aber sehr intelligentes Mädchen, mit der man immer reden kann. Und dann ist da noch Lou, die super verpeilt ist und die wir regelmäßig vor dem Zuspätkommen oder In-den-falschen-Raum-laufen bewahren müssen. Jedoch macht sie das nur noch liebenswerter.
Apropos, zu spät kommen. Ein paar Tische weiter sitzt das Mädchen, die vorhin mitten in die Morgenmesse hereingeplatzt ist. Irgendwie sieht sie verloren aus... Ihre roten Locken kringeln sich um ihr sommersprossiges, blasses Gesicht, ihre Schuluniform sitzt ein wenig schief. Mir fällt auf, dass ihre Socken viel zu weit sind, und sie konstant versucht, die eine mit der Fußspitze ihres anderen Fußes hochziehen, was jedoch nur in schwarzen Flecken auf den weißen Socken resultiert. Irgendwie habe ich Mitleid mit ihr. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Tag hier. Die Hallen wirkten gruselig, die Lehrer kalt, die Schülerinnen fremd und abweisend. Alles ist neu und ungewohnt und man spürt einen sofortigen Druck, niemals die Regeln missachten zu dürfen. Nur, dass man die Regeln noch gar nicht kennt, vor allem nicht die unausgesprochenen. Versunken in meine Gedanken bemerke ich nicht, wie mir Emilia eine Frage stellt. Irgendwann nehme ich nur das Wedeln ihrer Hand vor meinen Augen wahr und das Lachen meiner anderen Freundinnen. Ich verdrehe die Augen, aber lächele dabei. „Ich bin gleich wieder da", sage ich meinen Freunden, und erhebe mich. Ich habe das Bedürfnis, dem neuen Mädchen zu helfen. Der Mensch zu dein, den ich mir damals an meinem ersten Tag gewünscht hätte.
„Ist hier noch frei?", frage ich sie, und warte ihre Antwort gar nicht erst ab, bevor ich mich vor ihr niederlasse.
„Ich bin Liz. Also eigentlich heiße ich Helene, aber mein Zweitname ist Elisabeth und das finden die Lehrer hier ganz toll, weil Maria und Elisabeth und keine Ahnung, um ehrlich zu sein. Aber Elisabeth ist uncool, deswegen Liz. Oh Gott, das war ein ziemlich langer Ramble mit Dingen, die du wahrscheinlich nicht wissen wolltest, oder?" füge ich hinten noch hinzu, als das Mädchen mich überrumpelt anstarrt.
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sacred ground
Fiksi RemajaAls Hanna nach einem Bruch in ihrem Leben auf eine katholische Mädchenschule geschickt wird ist plötzlich alles anders. Für Helene ist dieses Leben bereits mehr als vertraut. Sie weiß welchen Regeln sie zu folgen hat und welche Gedanken man besser...