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Cerys verbrachte die Nacht auf Rhuns Lager. Die junge Frau wälzte sich hin und her, vermutlich geplagt von Alpträumen. Cerys tat kein Auge zu, wachte über die Frau, wegen derer sie ins Feindeslager gekommen war. Über sie zu wachen, war wahrscheinlich sinnlos: Wenn die Glutschwingen jemanden ermorden wollten, dann Cerys. Dazu hatten sie allen Grund, trug sie doch die Schuld zahlreicher Rebellen an ihren Händen, zierten Narben ihrer Seelen, ihrer Familien, Cerys' Unterarm. 

Die ganze Nacht leuchteten die Fackeln. Nur eine Patrouille kam hin und wieder vorbei, um diese zu kontrollieren. Am Morgen führte Rhun sie durch einen Teil des Komplexes in einen Speisesaal, den magisches Licht hell erleuchtete. Ein kleiner Trost und kläglicher Versuch, einen Tag-und-Nacht-Rhythmus in den Tiefen der Gebirgskette aufrechtzuerhalten. Wessen Magie speiste die Lichter? Es waren Informationen, für die Wächterin Sebalde den ersten Kommandanten vielleicht seines Postens entheben und ihn neu besetzen würde ... Der Blick hunderter Glutschwingen und ihre Gedanken an Rhun rissen Cerys in die Gegenwart zurück.

Eine Frau mit rostroten Haaren musterte sie. Cerys blickte ohne zu Blinzeln zurück. Es gab nur einen Menschen, für den sie nicht die blutrünstige Kommandantin war. Cerys würde sich vor keiner der Glutschwingen beugen, selbst gefesselt würde sie bis zum Tode kämpfen, wenn die Feinde von ganz Hilios es darauf anlegten.

»Das ist also die von vielen gefürchtete Kommandantin. Ich bin Thyra.« Die Frau sah sie herausfordernd an.

»Und wie viele Eurer Brüder und Schwestern hat meine Klinge niedergestreckt?« Hass loderte in Cerys' Inneren auf, wollte sie dazu verleiten, ihre Klinge auch jetzt einzusetzen. Da spürte sie Rhuns Hand auf ihrer Haut, nahm ihren Namen aus Rhuns Mund wahr. Die Flammen verloschen zu Funken und ließen Cerys erneut klar denken.

»Wir können Euch an Ort und Stelle hinrichten, Cerys. Ihr habt genügend Blut an Euren Händen kleben, sodass dieses Urteil nicht einmal die Zustimmung eines Gerichts bedürfte«, Thyra wechselte einen Blick mit Rhun, »oder wir können Euch vertrauen. Dass Ihr noch lebt, habt Ihr  Rhun zu verdanken.«

Cerys drückte Rhuns Hand, während Thyra fortfuhr: »Wir können nichts dafür, was unsere Vorfahren getan oder nicht getan haben.« Sie wies um sich. »Und wir können nichts für unser Blut.«

Wir. Und Rhun.

Cerys folgte Thyras weisenden Händen, sah die ausgemergelten Gestalten, die zwar fröhlich wirkten, doch viel zulange in der Dunkelheit der Höhlen in den Gebirgsketten gehaust hatten. Deren Kinder so blass waren, dass sie wohl noch nie das Sonnenlicht erblickt hatten. Die von der spärlichen Nahrung lebten, die die wenigen Glutschwingen gedeihen ließen, die einen Teil ihrer Magie zu kontrollieren wussten.

Wie hatten sie Kommandant Andan, Cerys, gar Wächterin Sebalde, all die Jahre derart an der Nase herumführen können? Dies waren keine ausgebildeten Streitkräfte, keine Rebellen, die es mit der Gebieterin von Hilios hätten aufnehmen können. Es waren Flüchtlinge, die täglich um ihr Überleben kämpften und bis jetzt aus purer Verzweiflung überlebt hatten. Doch auch aus Verzweiflung konnte man einen Angriff starten ...

Verschiedene Gefühle tauchten in Cerys' Innerstem auf. Zweifel, Hass, Misstrauen, Mitgefühl. Mitgefühl. Cerys wollte es abschütteln, doch hatte den Kampf gegen das Gefühl bereits verloren. Dass Cerys jemals Mitgefühl empfinden würde. Die alte Cerys hätte niemals Mitgefühl empfunden, schoss es durch ihre Gedanken. Das stimmte. Doch die alte Cerys war nicht mehr hier. Was sich auch in den letzten Monaten verändert hatte, es war allumfassend. Ob Cerys zurückkehren konnte? Zurückkehren zu ihrem alten Ich? Vielleicht. Zurückkehren zu Wächterin Sebalde und unter ihrem Auftrag Glutschwingen fangen, foltern, töten. Doch wollte sie es noch?

Rhun legte einen Arm um Cerys' Rüstgürtel, als spürte sie, was in ihr vorging. »Dich trifft keine Schuld, Cerys. Wir tun stets das, woran wir glauben. Nicht immer ist das, woran wir glauben, die Wahrheit.«

Cerys suchte Rhuns Blick, fand ihn und sah darin, was sich bereits als Erkenntnis kristallisiert hatte: Wie sehr Rhun in den letzten Monaten gewachsen war. Und nicht nur sie. Dass sie Rhun gefunden hatte ... Rhun, die Cerys die größte Schmach seit Langem bereitet hatte, die in ihr die Wut hatte überkochen lassen. Weshalb Cerys es ihr monatelang heimgezahlt hatte. Ihre gegenseitige Abscheu, bis ... »Rhun ...«

»Nimm dir alle Zeit, die du brauchst. Es gibt sicher einiges, worüber du nachdenken kannst..«

Da war ihr verschmitztes Grinsen, das Cerys so sehr beschützen wollte. Sanft nahm sie Rhuns Hand in ihre, strich mit dem Daumen über den Handrücken. »Danke.«

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