1. Dezember - him

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Samstag

"Danke dir!", Jay umarmte seinen Papa. Er hatte soeben das erste Türchen seines selbstgenähten Adventskalenders geöffnet und darin einen Deoroller mit "männlichem" Duft vorgefunden.

Eigentlich hasste Jay das geschlechtergerichtete Denken der Gesellschaft. Aber seit er sich seiner Geschlechtsidentität bewusst war und sich kurze Zeit später bei seinen Eltern geoutet hatte, bescherte ihm dieses Geschenk von seinem Vater ein enormes Glücksgefühl. Es zeigte ihm, dass er sich auf seine Eltern verlassen konnte und von ihnen unterstützt wurde.

"Gern geschehen, mein Großer.", mit diesen Worten erwiderte Jays Papa die Umarmung. Augenblicklich stiegen Jay Freudentränen in die Augen. Sein Papa hatte ihn gerade das erste Mal mit einer männlichen Form angesprochen. Diese Art von Gender Euphoria hatte Jay nicht einmal verspürt, als er zum ersten Mal einen Binder getragen hatte. Um seinem Papa zu zeigen, wie viel ihm das bedeutete, löste sich Jay aus der Umarmung, gab ihm einen Kuss auf die Wange und verschwand mit den Worten "Ich habe dich lieb, Papa." in sein Zimmer. Dort schmiss er sich überglücklich in sein Bett, wo er sogleich den Deoroller benutzte. Der Geruch, den sein Papa gekauft hatte, war wirklich sehr angenehm und passte zu Jay. Was allerdings noch nicht zu passte, war sein Haarschnitt, wie er fand. Also ging Jay, um sein Selbstbild auch für andere sichtbar zu machen, kurzentschlossen ins Bad, nahm sich den Rasierer seines Papas und rasierte sich kurzerhand die Haare ab. Und da Jay bisher immer lange Haare gehabt hatte, waren das ganz schön viele Haare, die dann auf den Badfliesen landeten. Aber das kümmerte Jay nicht. Denn als er in den Spiegel sah, stiegen ihm erneut Tränen in die Augen. Er sah das erste Mal sich selbst und sein wahres Ich, das so lange verborgen geblieben war. Jay konnte nicht glauben, dass er nach all dieser Zeit endlich er selbst sein konnte. Als er über diesen Moment der erneuten Freude hinweggekommen war, nahm er sich eine Tüte und sammelte die auf dem Boden liegenden Haare ein. Er wusste, dass es Menschen gab, die aufgrund verschiedenster Krankheiten mit massivem Haarausfall zu kämpfen hatten und wollte seine Haare deshalb spenden, um daraus eine Echthaarperücke für ebenjene Menschen zu machen. Gerade zur Weihnachtszeit war es Jay wichtig zu geben.

Als Jay mit der Tüte Haare in der Hand aus dem Bad kam, stand seine Mama im Flur und sah ihn entgeistert an. "Och nein, deine schönen Haare. Hättest du nicht wenigstens eine Kurzhaarfrisur draus machen können?", Jays Mama kam auf ihn zu und strich ihm über die nun millimeterkurzen Haare. Mit einem Grinsen im Gesicht antwortete Jay: "Streng genommen ist das eine Kurzhaarfrisur. Und sie wachsen doch wieder nach Mama." Jays Mama seufzte. "Du hast ja recht.", sie nahm ihn kurz in den Arm. "Und willst du sie jetzt so lassen oder soll ich meine Malkünste auspacken und dir mit Haarfarbe einen Weihnachtsmenschen auf den Kopf zaubern?", verträumt strich Jays Mama ihm erneut über die Haare. Gespielt entrüstet schlägt er ihre Hand weg. "Bloß nicht! Deine sogenannten Malkünste kenne ich. Da kann ich das auch gleich Alea überlassen." Alea war Jays vierjährige Schwester und deshalb war es nun Jays Mama, die entrüstet aus der Wäsche guckte. "Entschuldige mal. So schlimm sind meine Kunstfähigkeiten jetzt auch nicht.", aus Gewohnheit strubbelte sie Jay über den Kopf. Als Jay noch lange Haare hatte, hatte ihn das immer verrückt gemacht, weil sie dann immer total durcheinander waren. Aber jetzt hatte diese Bewegung keinerlei Effekt mehr. "Ich erinnere an die Karotte auf Aleas Geburtstagskuchen, die am Ende eher wie ein Penis aussah als alles andere.", Jay zwickte seiner Mama in die Seite und schloss seine Zimmertür bevor seine Mutter etwas auf diese spitze Bemerkung erwidern konnte. Jay genoss es sehr, dass seine Eltern so entspannt waren. Sie gaben ihm stets das Gefühl bedingungslos geliebt zu werden und Jay wusste, dass das nicht selbstverständlich und in vielen Familien ganz anders war.

Da Samstag war und Jay heute nichts vorhatte, legte er sich wieder auf sein Bett und öffnete Spotify. Er spielte das zuletzt gehörte Lied von vorne ab. Jay hörte es in letzter Zeit auf Dauerschleife. Eigentlich müsste es ihm schon zum Hals raushängen, aber es gab einen ganz bestimmten Grund, warum er nicht genug davon bekam. Er konnte nämlich bei Mariah Careys "All I Want For Christmas Is You" immer an ihn und die Hoffnung denken, dass er dieses Jahr vielleicht doch noch mit ihm zusammenkommt. Mit Florian. In den Jay nun schon eine verdammt lange Zeit heftig verliebt war. Und das hatte Jay auch ziemlich lange fertig gemacht, denn Florian war 13 Jahre älter als er. Und das bedeutete im Klartext, dass Florian 30 und Jay erst 17 Jahre alt war. Irgendwann hatte Jay sich dann aber mit diesen Zahlen abgefunden, weil er, besonders durch Gespräche mit seinen Eltern, darauf gekommen war, dass er nichts dafür konnte, in wen er verliebt war. Dennoch war die ganze Situation außerordentlich verstrickt. Nicht nur war Florian schwul und Jays Fußballtrainer, sondern zu allem Überfluss auch noch verheiratet. Und das ganz glücklich wie es nach außen schien. Dazu kam noch, dass Jay, da er eine freundschaftliche Beziehung zu Florian aufgebaut hatte, auch dessen Mann kannte, den er als Mensch total liebte und einfach nur toll fand. Das alles sorgte täglich dafür, dass Jay sich in einer Achterbahn der Gefühle befand. Mal hoffnungslos und verzweifelt, mal zufrieden und illusorisch. Deswegen verlor Jay sich häufig in Mariah Careys Song, den die ganze Welt kannte und hoffte, dass diese Weihnachten ein kleines Wunder passierte und er durch irgendwelche Zufälle und Wunder mit Florian unter dem Mistelzweig stehen würde. Gleichzeitig bekam Jay bei diesem Gedanken dann aber auch immer Angst. Nicht nur vor der Situation und einem möglichen Kuss, sondern auch vor Florians möglicher Reaktion und einer Ablehnung seinerseits sowie, im Falle eines Kusses, dem Umstand, dass da ja auch noch Florians Mann war, dem gegenüber Jay sich dann enorm schuldig fühlen würde, obwohl alles was er wollte, immer nur Florian gewesen war. Diese Zwickmühle bereitete Jay immer wieder Kopfschmerzen und er hoffte nur, dass all das eines Tages vergehen würde und er Florian vergessen konnte. Bis dahin würde er einfach weiterhin Tag und Nacht an ihn denken und "All I Want For Christmas Is You" mit einem sehnsüchtigen Gefühl im Bauch hören.

Becoming at Christmas - AdventskalenderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt