Eins

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Ein Schrei. Die Angst zu sterben. Sie beherrschte den Körper. Kühler Schweiß rannte meinen Hals den vernarbten Arm entlang und entriss mich einer fremden Macht. Verstört öffneten sich meine Augen. Ich sah in die seinigen. Doch der nächste Wimpernschlag ließ mich unserer verblassenden Erinnerung widerwillig entschwinden. Mein zuvor hektischer Atem stockte. Nichts hatte sich verändert. Zitternd vor Kälte, vor Angst, bannte sich mein Blick gen Himmel. Schneeflocken tanzten. Eisblumen zierten ein Glas mit Rosen. So wie jene, welche im Sommer hinter meinem Haus wuchsen. Hanna hatte sie dort vor Jahren gepflanzt. Ich erinnerte mich noch genau, wie sie Tag und Nacht vor den kleinen Knospen im Garten kniete und ihr Farbenspiel mit Herzem ersehnte. In Höhe meines Kopfes stand ein aus Holz geschnitzer Tisch. Der Regen hatte ihn bereits mit feinen Rissen versehen. Als ich behutsam ein Kästchen zu öffnen wagte, in dessen Deckel fein säuberlich ihr Name eingraviert war, erhellte eine wundervolle Melodie die Stille. Eine Träne floss meine Wangenknochen hinab und fiel wie ein Regentropfen zu Boden. Sie erstarrte augenblicklich zu Eis. Ich sah Hanna, blass wie sie neben mir im Bett lag. Ist nur eine harmlose Erkältung, waren seine Worte. Doch ihr Zustand verschlechterte sich mit jeder aufgehenden Sonne...Tag für Tag, bis sie vor Erschöpfung im Regen zusammenbrach. Lungenkrebs im Endstadium, hieß die Diagnose. Es war selbst für mich ein Schock, als ich es herausfand. Hannas eigenes Todesurteil war besiegelt worden. Zu ihrem neunten Geburtstag schmückte ich am frühen Morgen den Tisch mit drei Rosen. Rot für die Liebe, weiß für die Unschuld und gelb für die Freundschaft. Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn und flüchtete notgedrungen zur Schule. Erst als das Antlitz des Tageslichtes beinahe hinter den Bergen verschwunden war und ich freudestrahlend zur Tür hineinstürmte, fand ich Hannas leblosen kreidebleichen blutüberströmten Körper. Die Augen schienen vor Kälte versteinert. Nur noch ihr blondes fast grau schillerndes Haar wehte, während ein kühler Windhauch den Raum in Schuldbewusstsein tränkte. Die Vase war in Scherben zersprungen, die Rosen vertrocknet und weinrot, als hätten sie das Blut ihrer Schöpferin getrunken. Angeblich verlor sie bei dem Versuch, am Fenster den Sonnenuntergang zu betrachten, ihr Bewusstsein und schlug mit dem Kopf gegen die Tischkante, auf der die Rosen ihren Platz fanden. Ihren schier endlosen Schmerzen wurde augenblicklich ein Ende gesetzt. So waren es doch die Blumen, welche sie über alles liebte, die sie schließlich das Leben kosteten. Und es ist allein meine Schuld. Ich konnte ihr nicht helfen. Auch Mutter besaß keine Kraft, um dem Verlust ihrer geliebten Tochter in die Augen zu blicken und erhängte sich schrecklicherweise ein paar Monate später an einem der Holzpfähle unseres Hauses. Vater würde ich innerhalb der nächsten Stunden mit einem Einschussloch in der Schläfe reglos in dessen Arbeitszimmer wiedersehen. Meine ganze Familie...wie eine Kerze ausgelöscht. Erst jetzt konnten die Atemzüge ungehindert meine Lippen verlassen. Die Töne ließen Schmerz, Trauer aber auch Freude und Wärme durch die Adern fließen, sodass es mir gelang, meinen Körper schließlich zu erheben. Doch mir war bewusst, dass es jemanden gab, der Hanna vor ihrem Schicksal hätte bewahren können. Nach ihrem Tod verließ er mein Herz. Daher hegte ich tief in mir nur einen Wunsch. Er sollte leiden. So wie sie leiden musste...

Gestatten, Jack the RipperWo Geschichten leben. Entdecke jetzt