Kapitel 4

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Mein Nacken schmerzte höllisch. Abwechselnd zog ich die Schultern zu meinen Ohren hoch, um die unangenehme Verspannung zu vertreiben. Allerdings blieben meine Bemühungen erfolglos und so versuchte ich, mich erneut auf den Monitor vor mir zu konzentrieren, auf dem die Bilanzaufstellung der letzten drei Monate geöffnet war.

Die Zahlen verschwammen förmlich vor meinen Augen, als meine Gedanken abdrifteten und wie immer zu dem Mann zurückkehrten, der mein ganzes Sein seit dem Tag seiner Ankunft bestimmte.

Iwaizumi war alles und noch viel mehr, was ich mir jemals erträumt hatte, und die Tatsache, dass weder sein junges Ich, noch sein nun viel Attraktiveres, älteres Ich mich nicht wollten, stürzte mich nur noch tiefer in das dunkle Loch, in dem ich seit vier Tagen schmollend saß und in meinem eigenen Selbstmitleid badete.

Es wäre auch zu einfach gewesen, wenn ich über ihn hinweg gekommen wäre und unser Wiedersehen rein geschäftlich hätte betrachten können. Doch seit dem Moment, als ich ihn in seiner ganzen verheißungsvollen Pracht gegenübergestanden und dem tiefen Bass seiner Stimme gelauscht hatte, war meine Professionalität wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen und hatte einer Gier nach ihm Platz gemacht, die mir regelrecht Angst machte.

Selbst seine erneute Abfuhr konnte das laute Verlangen nach ihm in mir nicht zum Schweigen bringen und die Wahrscheinlichkeit, dass ich ihn in meinem aktuellen Geisteszustand wie eine läufige Hündin besprang und ins nächste Bett zerrte, war groß - was wiederum nur zu einer weiteren Ablehnung führen würde, für die ich noch lange nicht bereit war.

Somit mied ich seine Nähe und verschanzte mich lieber in meinem Büro, wo ich auf der kleinen Besuchercouch - dem Ursprung meiner Nackenschmerzen - schlief. Ich würde mich erst wieder heraustrauen, wenn ich meine Triebe sowie das neu entfachte Flattern in meiner Brust wieder vollständig unter Kontrolle hatte, damit ich nicht noch einmal verletzt werden würde.

Doch das war einfacher gesagt als getan, denn beides war so schwer zu ignorieren wie Iwaiszumis unverschämte Frage nach dem Escort-Service. Die Anzahl der möglichen Männer, die ihm bis jetzt bereits Gesellschaft geleistet haben könnten, brachte mich regelrecht um den Schlaf und zerrte unangenehm an meinem verwundeten Herzen.

Was hatten sie, was ich nicht hatte?

Leise schniefend ließ ich traurig meinen Kopf auf die Tischplatte fallen und ich schloss frustriert meine Augen, denn trotz seiner erneuten Zurückweisung kam ich einfach nicht über ihn hinweg und seitdem ich wusste, dass er ebenfalls auf Männer stand wollte ich ihn nur noch mehr

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür ließ mich eilig meinen Kopf vom Schreibtisch heben. Schnell richtete ich meine Haare und überprüfte den Sitz meiner Krawatte, als die Tür bereits aufgezogen wurde und Kiyoko, meine liebreizende Assistentin, das Büro betrat. In ihren Händen hielt sie einen ganzen Stoß an blauen Mappen.

"Ich bringe die fertigen Unterlagen, Oikawa-san", sagte sie geschäftig kam vor mir zum Stehen. "Hier die Übersicht der letzten drei Monate und hier die der letzten drei Jahre." Schwungvoll legte sie die ordentlich gehefteten Dokumentenmappen direkt vor mir ab.

"Ich habe die Jahresbilanzen laminiert, die Personalkosten farblich markiert und, wie Sie es gewünscht haben, die laufenden Kosten separiert und in einem Diagramm dargestellt." Mit einem kleinen Lächeln nickte ich und griff nach den Unterlagen, um sie näher zu betrachten.

"Was ist mit der Berechnung der Baukosten?", hakte ich nach und sie zog wie aus dem Nichts die Tabelle aus dem Mappenstoß vor mir hervor.

"Die Hochrechnung?" Wieder griff sie zielsicher nach der passenden Mappe und überreichte sie mir.

"Und...-"

"Die Gegenüberstellung der Surfschule zum Spa-Bereich", fiel sie mir ins Wort und hielt mir bereits die gewünschte Übersicht unter die Nase.

"Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, Oikawa-san: Ich finde, dass wir nun bestens vorbereitet sind." Ihre Stimme klang wie immer freundlich und gelassen, doch das Lächeln auf ihren Lippen war schmal und ihre sonst so wachen blauen Augen wirkten klein und müde.

Ich ahnte, dass, wenn ich sie noch einmal bat, die Unterlagen zu überarbeiten, sie mir postwendend ihre Kündigung vorlegen würde.

"Da wirst du wohl recht haben, Kiyoko." Sie lächelte mich erneut an und dieses Mal wirkte es erleichtert. "Ich gehe dann jetzt in die Kantine. Kann ich Ihnen etwas mitbringen?", fragte sie beim Hinausgehen.

Ich schüttelte nur den Kopf und steckte meine Nase erneut in die Unterlagen. Sie spiegelten perfekt jedes gute Argument zum Investieren wider und doch konnte ich mich nicht dazu überwinden, sie Iwaizumi vorzulegen und endlich Nägel mit Köpfen zu machen.

Unsere gemeinsame Vergangenheit und meine unerwiderten Gefühle lagen wie eine unüberwindbare Blockade zwischen uns. Natürlich war mir klar gewesen, als ich der Bitte meines Vaters nachgab, dass ich, um meine Pläne zu verwirklichen, an einem Punkt mit Iwaizumi zusammenarbeiten musste.

Doch objektiv und lösungsorientiert zu denken oder zu handeln, schien mir in seiner Gegenwart unmöglich, wenn mein gesamtes Inneres Achterbahn fuhr, sobald er in meiner Nähe war und mein einsames, zusammengeflicktes Herz nach ihm verlangte.

Wie um alles in der Welt sollten wir jemals zusammen kooperieren, wenn wir nicht einmal eine gewisse Normalität zwischen uns zuließen, in der wir beide friedlich koexistieren und ich nicht weiter verletzt wurde?

Derzeit wollte er nicht einmal mit mir gemeinsam zu Abend essen und vertrieb sich lieber die Zeit mit Fremden, die er zu sich ins Bett einlud.

Traurig verbarg ich mein Gesicht in meinen Händen und versuchte, das schmerzhafte Pochen in meinem Innern wieder unter Kontrolle zu bekommen, als ein leises Klopfen mich zusammenzucken ließ. Erschrocken blickte ich auf und entdeckte meine Mutter, die im Türrahmen stand und mich schweigend beobachtete.

"Mutter, was machst du denn hier?", fragte ich und setzte mich eilig gerade hin. Ich hatte keine Ahnung, wie lange sie dort gestanden hatte, doch als sie mit einem mitfühlenden Lächeln auf mich zukam, wusste ich, dass sie genug gesehen hatte.

"Ich war in der Nähe und wollte hören, wie es läuft", sagte sie und setzte sich auf den bequemen Sessel mir gegenüber.

"Es läuft gut. Die Unterlagen sind fertig und ich warte quasi nur auf den richtigen Augenblick, sie Iwaizumi zu geben", log ich und ordnete besagte Unterlagen von links nach rechts, damit ich ihr dabei nicht in die Augen sehen musste.

"Den richtigen Moment?", hakte sie sanft nach und ließ mich dabei nicht aus den Augen.

"Weißt du, Iwaizumi hat seit langem das erste Mal Urlaub und ich wollte ihn nicht gleich am ersten Tag damit überfallen, sondern ihm die Chance geben, sich einzuleben."

"Und du meinst, vier Tage sind nicht genug, um sich einzuleben?" Der Unterton ihrer Stimme verriet, dass sie mir meine Ausrede nicht glaubte. Mütter hatten einen eingebauten Lügendetektor und ihrer schlug so laut Alarm, dass selbst ich ihn hören konnte.

Wir hatten nie über den Abreisetag von Iwaizumi vor zehn Jahren gesprochen. Sie hatte mich nicht gefragt, warum ich mich in meinem Zimmer vor ihm versteckt hatte, nur um später erfolglos seinem Auto hinterherzurennen und dann letztendlich vollkommen den Kontakt zu ihm abzubrechen. Dafür war ich ihr sehr dankbar, doch irgendwas sagte mir, dass diese Schonfrist nun vorbei war.

"Ist das wirklich der einzige Grund, warum du dich seit vier Tagen hier versteckst?" Skeptisch zog sie eine Augenbraue hoch, während ich unter ihrem prüfenden Blick förmlich zusammenschrumpfte.

Mir brach der kalte Schweiß aus, denn ich log sie ungern an, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden, zuzugeben, dass ich noch nicht die Courage gefunden hatte, Iwaizumi erneut gegenüberzutreten.

Das würde nur neue Fragen aufwerfen. Fragen, auf die ich selbst nicht wirklich eine Antwort wusste und als könnte sie meine Verzweiflung spüren, legte sie behutsam ihre Hand auf meine und ich griff nach ihr wie ein Ertrinkender.

"Was ist wirklich los, Schatz?"

Ihre Frage ließ mich kurz innehalten und ich wägte ab, ob ich ihr wirklich die ganze Wahrheit sagen und zugeben sollte, dass ich damals so wie heute unsterblich in meinen besten Freund verliebt war und dass unser Wiedersehen mich völlig aus dem Konzept brachte und ich nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte.

Meine Mutter war schon immer meine beste Freundin und meine engste Vertraute gewesen und doch konnte ich diesmal nicht ehrlich zu ihr sein.

Wie sollte ich ihr denn auch bitte erklären, dass ich ganz nah bei Iwaizumi sein wollte, während ich gleichzeitig Meilen weit weglaufen wollte, nur um mich vor weiteren Enttäuschungen zu schützen?

Ich wollte nicht, dass sie glaubte, dass mein Liebesleben das Hotelgeschäft negativ beeinflusste. Mein Fokus sollte ausschließlich auf der Verwirklichung meiner Baupläne liegen, deswegen entschied ich mich, ihr nur einen Teil meiner Gefühlswelt zu offenbaren.

"Es ist verdammt schwer, ihn wieder hier zu haben", gestand ich schließlich und umfasste ihre schmale Hand noch etwas fester. Es war nicht einfach, das Chaos in meinem Inneren zu ordnen und in Worte zu fassen, doch ich hoffte inständig, dass sie mich verstand, auch wenn ich ihr nicht direkt sagte, was ich wirklich für meinen besten Freund empfand.

"Ich weiß nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll", fuhr ich leise fort, während sie mir wie immer aufmerksam zuhörte.

"Früher waren wir Freunde und heute sind wir Fremde mit einer gemeinsamen Vergangenheit. Und ich frage mich, ob wir wieder Freunde sein können? Will er das überhaupt? Oder sieht er nur das Geschäft und das Oi-Inn als nächstes Projekt?", sprudelte es ungebremst aus mir heraus.

Bekümmert ließ ich die Schultern sinken. Meine Mutter nickte verständnisvoll und drückte mitfühlend meine Hand, bevor sie sie losließ und sich aufrecht hinsetzte.

"Verstehe", murmelte sie und musterte mich für einen kurzen Moment. "Es ist keine einfache Situation", fasste sie mein Dilemma knapp zusammen, was sich für mich wie die Untertreibung des Jahres anhörte.

Meine Situation war mehr als nicht nur einfach, sie war beklemmend, beängstigend und unsagbar schmerzhaft, während gleichzeitig meine und die Zukunft des gesamten Hotels an ihr hing.

"Aber Liebling, um herauszufinden, was ihr seid, oder was ihr wohlmöglich wieder werden könnt, findest du nur heraus, wenn du endlich mit ihm sprichst."

Mein Gesichtsausdruck muss ihr verraten haben, wie beängstigend ich den Gedanken fand, denn sie lachte leise, bevor sie sagte: "Du bist kein Feigling, Tooru. Werte es als gutes Zeichen, dass er persönlich gekommen ist. Er hätte sicherlich auch einen seiner Berater schicken können. Doch er hat den ganzen langen Weg von London hierher auf sich genommen und das muss etwas zu bedeuten haben", fügte sie leise hinzu und ich suchte nervös ihren Blick.

"Du meinst, er wollte mich sehen?", fragte ich mit einem zaghaften Lächeln.

"Diese Frage, mein lieber Tooru, kann dir nur Iwa-chan beantworten", antwortete sie und stand auf.

"Geh zu ihm, sprich mit ihm. Wir Oikawas haben nie vor einer Herausforderung gekniffen", fügte sie energisch, aber liebevoll hinzu, bevor sie sich langsam Richtung Tür bewegte.

"Es wäre schön, wenn wir zu viert vor unserer Abreise nach Europa nochmal zusammen essen könnten", forderte sie beim hinausgehen und gab mir damit zu verstehen, die Angelegenheit zwischen Iwaizumi und mir nicht weiter aufzuschieben.

Benommen nickte ich und sie warf mir über die Schulter ein letztes aufbauendes Lächeln zu, bevor sie mich mit einem viel zu nervösen Magen und lautem Herzklopfen einfach zurückließ.

Just a kiss!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt