[ 15 ] - Lüge

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V A L E R I A

»Valeria.«, höre ich wieder dieselbe Stimme, wie aus meinen vorherigen Visionen meinen Namen sagen. Mist. Warum sind die visionen gerade jetzt wieder da? Warum zu diesem Zeitpunkt?
Der Raum ist wieder komplett dunkel, und das einzige, was ich sehen kann ist die Gestalt - ohne das Gesicht.

»Aviel?«, frage ich verzweifelt, während meine Stimme wie ein Echo in diesem engen schwarzen Raum schallt. Der Schatten ist für einen Moment kurz Still, so als wurde er von jemandem stummgeschalten, bis er meine Frage ignoriert und stattdessen sagt: »Du musst ihn loswerden.« Was? Wen meint er? Wen soll ich loswerden?

Doch noch bevor ich dem mysteriösen Schatten diese Frage stellen kann, ist er auf einmal verschwunden - eben stand er noch direkt vor mir und nun ist er einfach weg und lässt mich alleine in diesem unheimlich dunklen Raum zurück, was mich etwas mulmig fühlen lässt.
Langsam bezweifle ich immer mehr, dass der Schatten in meinen Visionen Aviel ist.

»Valeria?«, »Hm?«, blicke ich rapide zu Fabio herüber. »Ich habe dich gefragt, ob du Araz reinbringen kannst. Das Essen ist gleich fertig.«, sagt mein Bruder, während er gerade den Herd ausmacht. »V-von draußen?«, frage ich verwirrt. Was macht er da?

»Ja, er meinte vorhin, dass er vor der Haustür ist. Kannst du ihn holen?«, fragt er. Ich nicke abgelenkt. Seine grünen Augen schweifen zu meinen. »Alles okay?«, fragt er, als er zu mir kommt. »J-ja, warum?«, frage ich nervös. Er umfasst mein Kinn mit seiner Hand, als er sein Gesicht verzieht und mich irritiert fragt: »Du wirkst so blass. Wirst du vielleicht krank?«, seine giftgrünen Augen stechen direkt in meine hindurch, was es mir noch schwerer macht, ihn anzulügen.

»N-nein ist schon gut.«, sage ich lächelnd und befreie mein Kinn von seiner Hand. »Bist du sicher?«, fragt er zögernd. »Wirklich, Fabio.«, versichere ich ihm. Erst sieht er mich ungläubig an, bis er endlich nachgibt. »Gut.«, sagt er etwas erleichtert.

Irgendwie bin ich froh darüber, dass ich so einen fürsorglichen Bruder habe und ich bin ihm sehr dankbar dafür — auch wenn ich mich weder an ihn, noch an meine Kindheit erinnern kann, was mich auf der anderen Seite auch traurig macht.
Ich erhebe mich vom Sofa. »Ich gehe jetzt mal Araz holen.«, sage ich nervös, denn irgendwie habe ich Angst davor ihm zu begegnen, geschweige denn ihn anzusprechen.

Er nickt und geht langsam herüber zum Esstisch, um ihn zu decken, als er mir noch nachsieht, bevor ich aus der Tür in den Flur gehe, um Araz reinzuholen, als ich plötzlich bemerke, dass die Haustür ein Stück offen steht. Mit langsamen Schritten nähere ich mich ihr, doch sobald ich zwei männliche Stimmen wahrnehme, erstarre ich. Ich blicke neugierig durch den kleinen Türspalt und sehe Nikolai und Araz miteinander reden. Ich will die beiden gerade unterbrechen, um Araz hereinzu holen, doch halte augenblicklich inne, als ich Nikolai sagen höre: »Wann willst du ihr eigentlich die Wahrheit sagen?« »Wem?«, fragt Araz. »Du weißt wen ich meine. Valeria.« Bei der Erwähnung meines Namens muss ich kurz aufzucken. Was für eine Wahrheit? Was meint er? Araz seufzt kurz. »Bald. Bis dahin muss ich ihr noch etwas vorspielen.«

Wie bitte? Ich kann nicht glauben, was ich da gerade gehört habe. Er spielt mir nur etwas vor? Was zur Hölle passiert hier? Aus reiner Intuition, damit ich nicht ausversehen noch mehr mitbekommen, wovon ich eigentlich nicht erfahren soll, klopfe ich an der Tür, bevor ich sie ganz aufschiebe.

Nikolai und Araz blicken alarmiert zu mir. »Was ist los?«, lächelt Araz sanft. Wie kann er jetzt noch so schamlos lächeln?! »Fabio ruft dich. Das Essen ist fertig.«, sage ich angespannt. Nikolai blickt kurz erwartungsvoll zu Araz, bevor er wieder sein charmantes Lächeln aufsetzt und sich von uns verabschiedet, als er wieder lässig in sein Auto steigt.

Ich blicke zu Araz, welcher mich immer noch mit einem sanften Gesichtsausdruck ansieht, was mich nur noch mehr irritiert. »Gehen wir?«, fragt er mich und deutet in die Villa rein. Ich nicke hastig und mache ihm Platz, sodass auch er eintreten kann. Wir gehen beide zusammen in die Küche und ich spüre, wie mir etwas unwohl neben ihm wird, während wir uns an den Esstisch setzen. Zuerst war ich erleichtert darüber, dass Araz mit mir befreundet sein will und seitdem er mir es gestern gestanden hat, liefen die Dinge auch gut zwischen uns. Wir redeten seitdem viel miteinander und verstanden uns gut, doch jetzt fühlt sich das alles wie eine einzige Lüge an. Bis dahin muss ich ihr noch etwas vorspielen.

-

»Valeria.«, höre ich eine Stimme hinter mir sagen, gerade als ich mich aufs Sofa gesetzt habe. Fabio steht an der Wohnzimmer Tür. Er trägt einen Anzug und sieht irgendwie komplett anders aus als sonst. »Ich muss kurz raus. Aber Araz ist bei dir, okay?«, sagt er entschuldigend. »J-ja, klar.«, stottere ich, denn ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich okay für mich ist. Nicht, nachdem ich dieses eine Gespräch mitbekommen habe.

»Und mit wem du dich auch immer triffst — viel Spaß.«, taucht meim Lächeln wieder auf. Er muss lachen, bevor er sagt: »Es ist kein Date.«, sagt er genervt, was mich zum kichern bringt. Ich gebe ihm einen ja-klar Blick, woraufhin er mir durch mein Haar wuschelt und lacht. »Also mach keine Dummheiten, ja?«, fragt er ein letztes mal, bevor er aus der Haustür verschwindet.

Sobald mein Bruder verschwunden ist, lehne ich mich seuzend auf der Couch zurück. Ich komme immer noch nicht darauf klar, was Araz vorhin zu Nikolai gesagt hat. Doch wenn man vom Teufel spricht — Araz kommt gerade in das Wohnzimmer und setzt sich lässig zu mir auf die Couch. Ich zucke etwas auf, bevor er mit seinen leeren schwarzen Augen direkt in meine blickt und mich skeptisch fragt: »Was ist los?« Scheiße. Hat er was gemerkt?

»W-was? Es ist nichts.«, versuche ich mich herauszureden, in Hoffnung er würde einfach nachgeben. »Lüg mich nicht an, dilê.«, sagt er ernst. Seine tiefschwarzen Augen machen mich nur noch nervöser und ich bin in diesem Moment so hilflos. Ich soll nicht lügen? Er ist doch derjenige, der mich die ganze Zeit angelogen hat! Weiß Fabio überhaupt davon oder hat er ihn etwa auch die ganze Zeit angelogen?

»Lass es einfach, Araz.«, seufze ich verzweifelt und drehe mich von ihm weg. »Nein.«, sagt er. »Was?«, drehe ich mich schockiert wieder zu ihm um. »Ich höre nicht auf, bis zu mir sagst, was los ist.« Ist das sein ernst? Wie kann er sowas sagen, nachdem er mich so angelogen hat? »Ich mache das hier nicht zum Spaß, Araz!«, werde ich nun wütend. »Ich doch auch nicht.«, sieht er mich finster an. Was ist nur los mit ihm? Warum ist er so? Erst lügt er mich selber an und dann wird er wütend wenn ich es tue? Er hat kein Recht darauf.

»Hau einfach ab, Araz!«, ich stehe abrupt vom Sofa auf, und will gerade in den Flur stürmen, als Araz auf einmal vor mir steht und mir den Weg zur Tür blockiert. Seine leeren Augen blicken direkt in meine, während seine angsteinflößende Aura mich einnimmt. »Du läufst nicht einfach so weg vor mir, Valeria. Nicht du.«, knurrt er. »Was willst du von mir?«, flüstere ich. »Du fragst, was ich von dir will.«, sagt er streng und es klingt mehr wie eine Aussage, als eine Frage.

»Du weißt immer noch nicht, wer ich bin?«, fragt er auf einmal. »W-was? N-nein.«, stottere ich und sehe ihn fragend an. Was soll das? Worauf will er hinaus? Er sieht so aus, als würde er jeden Moment explodieren, als er kurz zögert, bevor er wieder spricht. »Ich bin dein verdammter — «, fängt er vor Wut kochend an, bis uns plötzlich die Hausklingel unterbricht.

Wir beide blicken augenblicklich zur Haustür herüber. Langsam gehe ich an Araz vorbei und öffne sie vorsichtig. Fabio steht nun direkt vor mir. »Fabio?«, frage ich überrascht. »Hey, ich hab nur was vergessen — «, spricht er, als er herein kommt, doch plötzlich hält er inne, als er Araz' finstere Miene erblickt. »Störe ich?«, »N-nein, mach dir keine Sorgen.«, lächel ich ihn an, doch kaum habe ich das ausgesprochen, spüre ich Araz' Blick auf mir, welchen ich versuche zu ignorieren. Ich will ihm nicht in die Augen gucken.

Er glaubt mir nicht ganz, geht jedoch ohne etwas zu sagen in die Küche und ich höre, wie er etwas aus einer Schublade herauskramt, bevor er wieder zu mir an die Haustür kommt. »Gut, dann gehe ich mal besser.«, sagt er angespannt, als er zwischen mich und Araz blickt. Ich nicke, bevor ich mich von ihm verabschiede und die Tür hinter ihm zu mache, sobald er verschwunden ist. Ich drehe mich langsam zurück nach hinten, doch stelle fest, dass Araz schon wieder verschwunden ist.

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