„Musstest du unbedingt deine Erinnerungen zerstören?“
Mit einem Mal war Roselyn wieder hellwach. Im letzten Moment konnte sie sich mit den Händen abfangen.
Das konnte nicht stimmen. Es war unmöglich, Erinnerungen in ein Gefäß zu sperren, geschweige denn sie jemanden zu entreißen.
Rubina ließ sich auf die Knie fallen und fuhr panisch mit den Händen über den Teppich. „Was hast du getan? Was hast du nur getan?“
Wie betäubt musste Roselyn feststellen, dass der Sand wie vom Erdboden verschluckt war.
Soll das heißen, meine Erinnerungen sind auch fort? Ihr wurde schwindelig. Sie hätte Rubina niemals die Sanduhr aus den Händen reißen sollen.
Langsam richtete Rubina den Blick auf sie. „Jetzt sieh, wie du damit fertig wirst.“
In diesem Moment war Roselyns Kopf so leer wie noch nie zuvor. Das einzige, wozu sie noch in der Lage war, war nur still auf dem Boden zu knien und keinen Laut von sich zu geben.
Erst als Rubina sich umdrehte und zum Gemälde schritt, wurde Roselyn aus ihrer Trance gerissen. Ihr kam es so vor, als wären ihre Knochen aus Watte. Jede noch so kleine Bewegung war mit den stärksten Schmerzen gleichzusetzen, die sie jemals hatte.
Dennoch durfte sie auf keinen Fall zulassen, dass Rubina von hier verschwand, denn das würde bedeuten, dass sie hier für immer festsaß.
Roselyn streckte einen Arm nach vorne aus, der sich so schwer wie Blei anfühlte. Sie öffnete den Mund, wollte etwas rufen oder wenigstens schreien, um Rubina abzulenken. Doch das einzige, was sie hörte, war das Keuchen ihres Atems.
Allerdings reichte es aus, um Rubina innehalten zu lassen. Langsam drehte sie sich um und verzog die Lippen zu einem falschen Lächeln. „Gib es auf“, säuselte sie, während sie beide Hände mit den Handflächen zur Decke hin drehte. „Mit dem Verlust deiner Erinnerungen hast du nun auch keine Seele mehr. Es gibt nichts und niemanden mehr, der dich retten könnte.“
Kaum hatte sie das ausgesprochen, streckte sie die Hände zur Lampe hinauf.
In der nächsten Sekunde war die Umgebung tiefschwarz. Keine noch so winzige Lichtquelle gab Roselyn Aufschluss, wo sich Rubina gerade befand. Mit wachsender Panik konnte sie nichts anderes tun als da zu stehen.
Wenn sie auch nur einen Schritt machte und dieser sie in die falsche Richtung leitete, würde das ihr Ende bedeuten. Aber wenn sie hier verharrte, würde sie auf ewig in diesem Raum gefangen bleiben, vergessen von der Welt.
Ich darf das nicht zulassen. Zum ersten Mal seit dem Zerbersten der Sanduhr hatte Roselyn einen klaren Gedanken, und er gab ihr neue Kraft.
Ein leises Plätschern ertönte, was bedeuten musste, dass sich das Portal geöffnet hatte. All ihren Mut zusammennehmend, stürzte Roselyn vor. Sie musste nicht über ihre nächste Bewegung nachdenken, folgte nur dem Geräusch des Wassers.
Plötzlich erklang ein Aufschrei und etwas strich über Roselyns Haut.
„Lasst sie nicht entkommen!“ Erneut erklang ein Ruf wie aus einem Chor mit unzähligen Stimmen.
Im nächsten Moment blendete grelles Licht Roselyns Augen. Unsanft kam sie mit dem rechten Arm zuerst auf dem Boden auf, was ihr die Luft aus den Lungen quetschte.
Die Umgebung materialisierte sich nur langsam vor ihr, doch Roselyn wartete nicht. Stattdessen richtete sie sich auf und rannte los. Es war so, als ob ihr Körper fremdgesteuert wurde.
Inzwischen war ihr wieder klar, dass sie sich in dem Gebäude befand, in dem sie aufgewacht war.
Der Flur zog sich ewig lang weiter. Roselyn blieb immer in Bewegung, spürte keine Erschöpfung.
Es war beängstigend still. Das fiel ihr erst nach vielen Metern auf. Da waren keine Schritte und auch keine Rufe so hören. Roselyn wollte sich umdrehen, doch aus irgendeinem Grund zwang ihr Körper sie dazu, den Blick geradeaus zu halten.
Irgendwo musste es einen Ausweg geben. Eine Tür, ein Fenster, etwas, durch das Roselyn entkommen konnte, und wenn sie nur in einem anderen Raum landete.
Langsam wurde ihr klar, dass es in diesem Flur nicht mit rechten Dingen zuging. Zweifelsohne war er so verzaubert, dass er kein Ende hatte.
Vor Roselyn tauchte mit einem Mal schnell wie ein Blitz das schemenhafte Abbild einer Waldlichtung auf. Ich muss mich teleportieren.
Sie konzentrierte sich auf nichts anderes mehr. Mit geschlossenen Augen rannte sie weiter und ließ das Bild vor ihrem inneren Auge stärker werden, bis es so wirkte, als wäre sie selbst da. Dann stellte sie sich die Eindrücke vor, die sie an diesem Ort erleben würde. Die weiche Erde unter ihren Schuhen. Das warme Sonnenlicht auf ihrer Haut, leicht abgeschwächt durch eine Brise. Der scharfe Geruch von Kräutern.
Mit einem Mal durchfuhren Schmerzen Roselyn, als ob mehrere Nadeln in ihre Haut stechen würden.
Doch es hielt nicht für immer an. Kaum eine Sekunde später war es vorbei, als wäre nie etwas geschehen.
Vogelzwitschern erfüllte die Stille. Zögernd öffnete Roselyn die Augen und musste feststellen, dass sie an dem Ort ihrer Vorstellung befand.
Habe ich mich tatsächlich teleportiert?, fragte sie sich, während sie vorsichtig umherlief. Alles fühlte sich so real an, obwohl es eigentlich nicht sein durfte.
Auch obwohl sie ihre Farbe bekommen hatte, fehlte ihr die Kette. Ohne sie war es unmöglich, Magie anzuwenden.
Plötzlich hatte Roselyn das Gefühl, dass sie schon einmal in diesem Wald war. Doch sie konnte nicht bestimmen, woher diese Erinnerung stammte. Fast war es so, als wären es die Gedanken einer fremden Person.
Völlig in den Bann des Waldes gezogen schritt Roselyn umher. Dieser Ort strahlte einen solche Sicherheit aus, dass sie keine Angst mehr hatte.
Roselyn setzte sich auf einen Baumstumpf und stützte nachdenklich die Hände auf den Oberschenkeln ab. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich wieder normal bewegen konnte. Keine Schmerzen benebelten ihre Sinne.
„Hallo. Hallo“, sagte sie testweise. Auch ihre Stimme funktionierte wieder.
Es hatte den Anschein, dass die Teleportation zu diesem Ort den Bann, der auf ihr gelegen haben musste, aufgelöst hatte.
Nur zu gerne wollte sich Roselyn ausruhen und die Ereignisse vergessen. Allerdings wusste sie, dass sie es nicht einfach so hinnehmen durfte.
Rubina hatte erwähnt, dass Roselyn ihre Erinnerungen verloren hatte. Daran hatte sie keinen Zweifel, auch obwohl sie anscheinend noch einige hatte. Trotzdem war ihr tief in ihrem Inneren bewusst, dass die wichtigsten Erinnerungen fehlten.
Es war zum Verzweifeln. Roselyn würde alles dafür tun, um ihre Erinnerungen zurückzuholen, aber sie hatte nicht einen Anhaltspunkt. Das Gebäude, aus dem sie geflohen war, konnte sich sonst so befinden. Danach zu suchen würde so sinnlos wie das Vorhaben, eine Nadel im Heuhaufen zu finden.
Dann erklangen Stimmen. Anfangs waren sie so leise, dass Roselyn nicht auf sie achtete. Erst als sie klar die gesprochenen Worte verstehen konnte, horchte sie auf.
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Die Farben der Bestimmung - ❤️Rote Magie❤️ (Bis auf Weiteres abgebrochen!)
FantasyIn Kattrahlis wird allen Bewohnern, die das vierzehnte Lebensjahr erreicht haben, eine bestimmte Farbe zugeteilt: Rot, Grün, Blau, Gelb und Pink. Sie verleihen ihrem Besitzer, dem Farbenschützer, eine Fähigkeit, die er nicht für Schlechtes missbrauc...