2003.
Das Jahr, in dem alles begann.
Das Jahr, in dem die erste Begegnung stattfand.
Flo's Blick gleitet wieder auf das Foto in dem Album, pupertäre Gesichter starren mit gelangweilten Blicken zurück. Leer, unwissend.
Wenn er damals geahnt hätte, welchen Einfluss diese Begegnung auf sein zukünftiges Leben haben würde, wie hätte er sich verhalten?Es war ein sonniger Frühlings-Nachmittag. Niemand hatte damit gerechnet, dass es schlagartig so warm werden könnte.
Die Schüler des Gymnasiums verließen das Schulgebäude dementsprechend gut gelaunt, froh über das gute Wetter und darüber, dass sie nach hause gehen konnten.
Die Sommerlaune war ansteckend, und so gesellte Flo sich zu der Traube aus Zehntklässlern, die auch ihm zum Abschied auf die Schulter klopften und ihn in ihre Pläne für das Wochenende einbezogen. Er war immer beliebt gewesen, viele wollten mit ihm befreundet sein. Er selbst hatte nichts dagegen, alleine zu sein. Er mochte die Einsamkeit, und gerade das schien ihn für andere geheimnisvoll, interessant wirken zu lassen.
Als sich die Ansammlung von Teenagern langsam auflöste, ging auch er zum Ausgang.
Kurz vor den Fahrradständern befiel ihn das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben.
Nach kurzem Überlegen fiel ihm auf, dass er seinen Helm im Schulgebäude liegen lassen haben musste. Also rannte er zurück zu dem Korridor, in dem sein Klassenzimmer lag.
Und innerhalb von einer Sekunde geschah es dann. Flo lief gegen eine Person, verlor das Gleichgewicht und fand sich auf dem matten, zerkratzten Fußboden wieder, der Inhalt seines Rucksacks rund um ihn zerstreut.
Er erwartete, dass ihm eine Hand entgegengestreckt wurde, um ihm aufzuhelfen. Er hob den Blick und sah den Jungen an, den er angerempelt hatte. Dieser starrte unverwandt zurück.
„Was?", schnauzte Flo irritiert während er sich aufrappelte.
„Sorry", murmelte der Junge knapp.
Er war seit Anfang des Jahres in seiner Klasse, war sehr ruhig. Man sah ihn selten mit anderen Schülern, und wenn, dann nur weil sie ihre Männlichkeit an ihm erprobten.
„Schwuchtel."
„Ach, lass doch den Emo, der ist eh komplett zugedröhnt."Der „Emo" trug ein schwarzes Bandshirt, die dunkel gefärbten Haare, die ihm in die Stirn hingen, waren am Ansatz bereits wieder dunkelblond. Er war klein, schien aber durchtrainiert. Die hellblauen Augen musterten ihn zwar vorsichtig, aber durchdringend.
Flo fiel auf, dass er nicht einmal den Namen des Jungen kannte.
„Sorry, dass ich dich umgerannt hab", meinte er in einem Anflug aus schlechtem Gewissen, während er seine Sachen zusammensammelte.
Der Junge erwiderte nichts, doch etwas in seinem Blick ließ Flo weitersprechen. Es war keine Entscheidung, die er selbst traf. Es war eine Kurzschlussreaktion seiner Gedanken, ausgelöst durch den Ausdruck blauer Augen.
„Hast du Samstag Zeit? Ein bisschen abhängen, oder...?", fragte er, betont lässig.
Auf einmal kam Leben in den Jungen, die blauen Augen verengten sich zu Schlitzen.
„ Ich bin nicht schwul, könnt ihr das nicht einfach verstehen?", er zischte fast, und Flo hätte sich selbst ohrfeigen können.
„Nein, nein, das meine ich nicht. Das war eine ernsthafte Frage, ich...", er brach ab.
Der Junge fiel wieder in seine ursprüngliche, ausdruckslose Haltung zurück.
Keine Regung huschte über sein Gesicht.
Plötzlich streckte er die Hand zu einem High-5 aus.
„Ich heiße Max.", und langsam breitete sich ein schiefes Lächeln auf seinem Gesicht aus, er wischte sich die Haare aus der Stirn.
Sie verließen zusammen die Schule, während Max Flo eine Zigarette anbot, die dieser dankend ablehnte. An den Helm verschwendete Flo keinen Gedanken mehr.