1. Zurück zu den Wurzeln

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Die Sonne stand noch nicht lang am Himmel, als sie die ersten Anzeichen vernahm. Man konnte das Röhren von starken Busmotoren hören, Fahrradklingeln, Getrappel von zu locker sitzenden Sneakern, Kinderlachen. Von ihrem Aussichtspunkt aus konnte sie sehen, wie der Schulhof sich immer weiter füllte. Schnatternde Schülergruppen liefen an ihrem Wagen vorbei, es herrschte allgemeine Betriebsamkeit. 

Nervös blickte sie auf ihre Uhr. 

7.30 Uhr. 

Sie war spät dran! 

Doch ihre Beine wollten sich einfach nicht bewegen. Fahrig kurbelte sie ihr Fenster hinunter und ließ die abgebrannte Zigarette ungesehen in den Rinnstein fallen. Es half nichts, sie musste sich beeilen.

Als sie aus ihrem Auto stieg und gerade dabei war ihre Tasche aus dem Kofferraum zu fischen, trat eine Schülergruppe an ihr vorbei. „Geiles Auto!", rief einer der Jugendlichen im Vorbeigehen, die anderen Jungs nickten anerkennend. 

„Danke", nuschelte sie verschmitzt grinsend und ging etwas leichteren Schrittes in Richtung des alten Gemäuers, welches am Ende der Straße auf sie wartete. Sie bahnte sich an Menschentrauben vorbei, umrundete einen Straßenpfosten und kam schließlich vor den Eingangsportalen der alten Schule zum Stehen. 

Drei große, sandsteinumrahmte Torbögen gaben den Weg ins Innere frei. Darüber waren im weißen Putz die Worte PIETATI - VIRTUTI - DOCTRINAE eingehauen.

Die Frau schluckte, während sie spürte, wie ihr saure Galle den Hals hinaufstieg. Doch schon im nächsten Moment verflog der Augenblick, als sich zwei starke Hände ruckartig auf ihre Schultern pressten und so leicht nach vorne drückten.

„Endlich", hörte sie eine herbe Männerstimme, noch verschlafen ob der frühen Morgenstunde, sagen. „Ich dachte schon, du würdest kneifen!"

Sie drehte sich dem Mann zu und begann verhalten zu lächeln. „SO ein Quatsch", hörte sie sich wie aus einem Nebel heraus sagen. „Wieso sollte ich?"

„Naja, so wie du eine Miene machst, liegt die Vermutung nicht so weit weg." Er zwinkerte ihr zu. „Ach komm schon, es wird bestimmt nicht so schlimm!" 

Und er zog sie ohne Widerwillen zuzulassen mit sich durch den mittleren Torbogen und eine der Treppen hinauf in die Eingangshalle des imposanten Gymnasiums. 

IHRES Gymnasiums! 

Sie war hier zur Schule gegangen und sie konnte mit Fug und Recht behaupten, dass sie niemals wieder hatte einen Fuß hineinsetzen wollen. Doch das Leben spielte manchmal anders. Und so erreichte sie im Schlepptau mit dem jungen Mann das Sekretariat und somit die Höhle des Löwens - das dahinterliegende Direktorenzimmer.

„Guten Morgen Gitte, meine Schöne, ist die Chefin da?", ertönte auch sogleich die Stimme ihres „Entführers". 

Eine Frau Mitte-Ende Fünfzig blickte über ihre halbmondförmigen Brillengläser auf, den Telefonhörer in der einen und einen Stift in der anderen Hand. Ihre freundlichen, sanft-grünen Augen blickten von einer Person zur anderen.

„Guten Morgen Tim, du Witzbold! Nein, sie ist im Lehrerzimmer." Ihr Blick wanderte gen Wand, an der eine große Uhr hing und dann tadelnd zu ihnen. „Die Dienstbesprechung läuft seit fünf Minuten!"

„Ups", entkam es Tim und schubste sie erneut herum und in Richtung Ausgang. „Komm schnell, Pünktlichkeit ist ein absolutes Muss bei Ihr!", dabei ließ sich bei dem Wort Ihr ein leicht angespannter Unterton vernehmen.

Sie liefen um eine Ecke und sie erkannte sofort, auf was Tim zusteuerte. Ohne eines weiteren Wortes trat er auf die mausgraue Tür zu und öffnete sie leise. „Komm, schnell!", raunte er und zog sie mit sich in den überfüllten Raum hinein.

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