Prolog

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Christine

Ich musste hier weg und das schnellstmöglich. Die Musik dröhnte in meinen Ohren und ich wusste, dass ich wahrscheinlich einen Tinnitus bekommen würde, wenn ich jetzt nicht verschwand. Verzweifelt sah ich mich nach Timothy um. Eigentlich wollte ich nicht mit ihm reden, aber da er mich in seinem Auto hergefahren hatte, musste er mich jetzt wieder nachhause bringen oder mir wenigstens die Autoschlüssel überlassen. Ich drängelte mich durch die Massen dabei sah ich nur verschwommen, da mir die verflossene Schminke in die Augen gelaufen war. „Hey, als was gehst du als Teufel oder als Horrorbraut?" scherzte ein Fremder, der mehr als betrunken klang. Vermutlich waren auch Drogen mit im Spiel. Ein weiterer Grund, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Sein Scherz ging mir nicht allzu nahe. Wenn ich so gruselig aussah, hatte ich mein Ziel doch erreicht. Auch wenn ich es nicht in einem Teufelskostüm geschafft hatte, sondern nur mit meinem normalen Gesicht. „Hey, alles gut bei dir?", sprach mich ein Mädchen an, was sich in ein Skelettkostüm geworfen hatte. Ich winkte mit meiner Hand ab und drängelte mich weiter durch die feiernde Menge. Es machte keinen Sinn zu lügen und zu sagen, es war alles okay. Schließlich hatte ich den ganzen Abend heulend im Badezimmer verbracht und das sah man mir anscheinend auch an. Kein Wunder, wenn man auf eine Halloweenparty ging und im Gesicht einen Schminkkasten hatte. Ich entdeckte Timothy, der gerade abseits der Tanzfläche stand und ein Bier in der Hand hielt. Eigentlich hatten wir uns ausgemacht, dass er heute nichts trinkt, damit er fahren kann. Tja, das hatte ja super geklappt. In der Zeit, in der ich mich im Bad eingeschlossen hatte, hatte er seine Gefühle mit Alkohol betäubt. Aber Hauptsache, wir wurden immer als das perfekte Paar gesehen. So 'nen Scheiß. Sowas wie ein perfektes Paar gab es doch gar nicht. Niemand war perfekt. Auch nicht Timothy und ich. „Geh weg!" Timothys Stimme war stark und laut, sodass gleich andere auf uns aufmerksam wurden, die sich dann aber wieder mit Herumknutschen oder Shots nehmen beschäftigen. „Timothy, bitte, lass uns nach Hause gehen." Ich nahm seine Hand, um etwas Abstand zu den anderen Menschen zu gewinnen. „Scheiße Chrissy nein!" Ruckartig zog er die Hand weg und streifte dabei meinen Arm, auf dem er einen Kratzer hinterließ. Jedoch scherte ich mich nicht weiter darum. „Verdammt Timothy, reiß dich jetzt zusammen und komm mit nachhause. Meine Fresse, es ist schon spät!" Nun änderte sich meine Stimme von traurig zu wütend. Wieso machte er es mir so schwer? Wieso verdammt nochmal konnte er mir nicht den Autoschlüssel geben und wir würden nachhause fahren? In unserer gemeinsamen Wohnung, die wir jetzt seit einem viertel Jahr besaßen. Tränen kullerten meine Wange runter. Ich konnte nicht genau einordnen, ob ich traurig oder wütend war, aber ich wusste, dass ich verletzt war. Dieser Abend hätte so schön werden können und jetzt stritt ich mit meinem Freund. „Verschwinde Chrissy!" Er machte einen Schritt nach hinten. „Und dich hier alleine lassen? Das kannst du vergessen! Nachher fährst du dich noch in deinem Scheißauto tot!" Ich trat einen Schritt auf ihn zu. „Nein, das meinte ich nicht. Verschwinde aus meinem Leben, Chrissy, nicht nur von der Party." Seine Augen funkelten aber diesmal nicht aus Liebe, wie sie es sonst immer getan hatten. Diesmal aus Wut und aus Hass. „Das meinst du nicht so" versuchte ich mich selbst laut zu beruhigen. „Oh, doch, das tue ich. Ich wünschte, du würdest für immer verschwinden und ich würde dich nie wieder sehen!" Nun traten auch ihm Tränen in die Augen, aber er drehte sich weg und entfernte sich dann langsam von mir. Wie angewurzelt blieb ich stehen. War das gerade wirklich passiert? Nein, das konnte nicht sein. Ich wollte mich kneifen, um endlich aus diesem Albtraum aufzuwachen, konnte es aber nicht. Wie gelähmt stand ich da und sah ihm nach. Sah Timothy nach, dem Mann, mit dem ich mein restliches Leben verbringen wollte. Tränen flossen über mein Gesicht und ein unerträglicher Schmerz machte sich in meiner Brust breit. Als hätte man ein Messer in mich gestoßen und war gerade dabei, es langsam wieder herauszuziehen. „Hey, alles in Ordnung?" Hinter mir hörte ich eine mir unbekannte Männerstimme. Jedoch drehte ich mich nicht um, um nachzusehen. Es war ganz offensichtlich nicht alles in Ordnung und jetzt versuchte irgendein Typ, den Ritter in der Not zu spielen. Nein, danke. Darauf würde ich mich nicht einlassen. „Chrissy?" Eine zweite Stimme erklang hinter mir. Diesmal kannte ich sie. Hinter mir stand Lisa, eine ehemalige Klassenkameradin, mit der ich vor kurzem zusammen mein Abi geschrieben hatte. „Können wir?" Nun tauchte eine dritte Person auf. Na toll, war das jetzt eine Versammlung und ich war das Ausstellungsstück? Ihn kannte ich nur flüchtig. Ich wusste, dass er Thomas hieß und seine Mutter und sein Vater eine ziemlich blutrünstige Scheidung gehabt hatten. Das hatte mir mein Vater erzählt und ich hatte es mir gemerkt, obwohl mich Dinge, die etwas mit dem Job meines Vaters zu tun hatten, eigentlich nie interessiert hatten. „Brauchst du irgendwie Hilfe?", fragte Lisa mich. Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich eigentlich Hilfe brauchte. Schließlich hatte ich noch keine Ahnung, wie ich nachhause gelangen sollte. Ich wollte jetzt aber einfach nur alleine sein. Wie gerne hätte ich jetzt in meine Bettdecke eingekuschelt gelegen und neben mir Timothy. Nun nur war ich weder in meinem Bett noch bei Timothy. „Sicher?", fragte der Fremde. Ich zögerte und mir lief eine weitere Träne über die Wange. Wie armselig war das denn? Ich hatte meiner kleinen Schwester gesagt, dass ich es kindisch finden würde, an Halloween, mit ihr, um die Häuser zu ziehen, und jetzt stand ich hier, heulend und wie in einem Schaufenster gefangen. Die erste Option wäre tausendmal besser gewesen. Auch wenn sie schon 15 war, hätte ich alles dafür gegeben, jetzt mit ihr an Haustüren zu klingeln. „Um ehrlich zu sein, weiß ich noch nicht genau, wie ich nachhause komme. Aber ich lass' mir schon was einfallen." Ich versuchte etwas zu lächeln, aber meine Mundwinkel wollten sich nicht nach oben bewegen. „Wir können dich mitnehmen, wenn du möchtest" bot Thomas an. „Was jetzt ehrlich?" Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. „Das ist lieb von euch, aber ..." Ich konnte meinen Satz nicht beenden, da mir der Unbekannte ins Wort fiel. „Aber was? Du wohnst doch auch in Meron, oder?" Zögernd nickte ich. „Gut, dann ist es für uns kein Umweg." Ich wollte mich noch einmal bedanken und das Angebot ablehnen, da ergriff wieder Thomas das Wort. „Wir würden uns schlecht fühlen, dich hier so aufgewühlt und ohne eine sichere Möglichkeit nachhause zu kommen, stehen lassen." Da hatte er recht. Ein Taxi würde heute wahrscheinlich nicht fahren und an Halloween liefen immer einige betrunkene Menschen draußen rum. Wer weiß, ob ich dann heute überhaupt zu Hause ankommen würde. „Na schön" willigte ich ein. „Ich bin übrigens Daniel" stellte sich der Unbekannte mir vor, als wir uns durch die Menge drängelten. Auf dem Weg zum Auto sagte ich nichts. Es war wahrscheinlich nicht besonders höflich, aber ich hatte jetzt wirklich keine Kraft für Smalltalk. Ich wollte einfach nur schnellstmöglich nachhause. „Danke, dass ihr mich mitnehmt" brach ich dann doch die Stille. „Kein Ding", sagte Daniel, der mich mitfühlend musterte. Dann stiegen wir in das Auto ein. In einer halben Stunde war ich zu Hause und konnte mich mit einer Tüte Marshmallows im Bett verkriechen. So hatte ich mir Halloweennacht zwar nicht vorgestellt, aber was sollte ich machen? Nochmal mit Timothy reden? Zu ihm zurückgehen und ihn anzuflehen, bei mir zu bleiben? Kurz überlegte ich nochmal aus dem Auto auszusteigen, entschied mich dann aber dagegen und ließ mich in den weichen Sitz fallen. Eins war mir an dem heutigen Tag auf jeden Fall bewusst geworden. Nächstes Jahr, würde ich mit meiner Schwester um die Häuser ziehen und daran konnte mich keiner hindern. 

Das Blut der weißen RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt