1. Kapitel

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     Die nervigen Töne eines Justin Bieber Liedes weckten mich. Zumindest das war gut an seiner Musik. Sie war so nervig, dass ich aufwachte, nur um sie eine Sekunde später wieder abzustellen. Träge rieb ich mir über die Augen. Sechs Uhr morgens. Viel zu früh um aufzustehen, doch in dieser Familie mussten wir alle so früh aufstehen, damit wir ja alle am Tisch sitzen konnten, um zusammen zu frühstücken.
    Wie es sich eben gehörte. Nicht, dass ich das wollte. Nicht, dass Lucky das wollte. Wir beide würden viel lieber weiterschlafen als uns den täglichen Mist anzuhören, den unsere Eltern gerne von sich gaben. Meist ging es um Artikel in der Zeitung oder eben Geld. Meist über Geld.
     Und ich konnte es nicht mehr hören. Ja, wir hatten viel Geld und ja, mein Vater hatte auch viel dafür getan, doch das bedeutete nicht, dass wir besser waren als andere. Im Gegenteil. Wir waren nicht besser. Wir waren in meinen Augen schlimmer.
     Dad flog fast jede Woche mit seinem Privatjet durch die Welt, zu irgendwelchen Meetings, die man auch online hätte abhalten können. Er verpestete damit die Umwelt, doch das interessierte ihn nicht. Im Urlaub wollten sie auch immer mit dem Privatjet fliegen, damit gab es auch hier in den USA genügend Reiseplätze, die man sogar mit dem Zug erreichen konnte.
     Wir warfen Essen weg. Na ja, unsere Köche, denn Mum hatte sich angewöhnt nur noch ganz wenig zu essen, damit sie schlank blieb und hatte deswegen auch eine spezielle Diät. Dad aber hatte andere Vorstellungen von seinem Essen...
    Oft, bevor ich die Reste retten konnte, landeten sie im Müll.

     Meinen Job im Pflegeheim hatte ich an den Nagel hängen müssen. Auch im Kinderheim hatte ich nicht mehr arbeiten dürfen, nachdem ich dort bis sehr spät gelieben war, da ein Kind den ersten Tag von einer Pflegefamilie wieder dagewesen war und geweint hatte. Ich hatte ihn den ganzen Abend lang getröstet und Spiele mit ihm gespielt. Es hatte mich so fertig gemacht, dass ich anstatt ein A zu bekommen, ein B bekommen hatte...
     Momentan also durfte ich nicht arbeiten. Dafür versuchte ich jeden Tag zu Fuß zur Schule zu laufen, doch das ließen weder Mum noch Dad zu. Mit dem Bus durfte ich auch nicht fahren, weil da waren ja andere aus der Schule. Auch Lucky durfte nicht mit dem Bus fahren.
     Manchmal da... wusste ich einfach nicht, wie ich mit dieser Familie umgehen sollte. Ich wusste es einfach nicht. Träge und noch viel zu müde versuchte ich frische Kleidung aus meinem Schrank zu fische, doch meine Augen waren fast noch geschlossen und ich erkannte kaum, wo mein Schrank überhaupt aufging. Schließlich aber fischte ich wahllos Kleidung heraus. Nicht, dass ich keine Auswahl hatte, doch die Auswahl war eher das, was meine Mutter mir ständig kaufte. In dieser Hinsicht hatte ich wohl schon lange keine Wahl mehr. Denn was sollte ich auch tragen? Immer, wenn ich das trug, was ich wollte, war sie da und sorgte dafür, dass ich es nicht trug. Sie sorgte dafür, dass ich gar nicht mehr anders konnte. Und ich hasste es. Hasste es so sehr, dass ich nicht wusste, was ich davon halten sollte.
     Sagen aber konnte ich nichts. Was sollte ich auch sagen? Sehr lange hatte ich versucht etwas zu sagen, doch sie fand immer einen Weg meine Kleidung zu ruinieren. Entweder ging sie ganz plötzlich beim Waschen ein, hatte Flecken, die nicht mehr zu entfernen waren oder sie bekam ganz plötzlich Löcher.

     Nach einer Weile hatte ich es also aufgegeben gegen sie zu reden.
     Stattdessen versuchte ich mich nun ihren Wünschen zu fügen. Auch, wenn das nicht das war, was ich wollte. Es würde nie das sein, was ich wollte. Doch ich hatte ja keine andere Wahl. Welche Wahl hatte ich denn schon? Richtig. Gar keine. Ich hatte keine Wahl. Ich musste mich den Dingen fügen, die da kamen. Etwas anderes blieb mir ja nicht übrig. Und würde mir vielleicht auch nicht übrig bleiben.
     Seufzen verschwand ich im Bad und versuchte wacher zu werden. Versuchte endlich wieder die Zeit zu verstehen. Doch das fiel mir alles andere als einfach. Würde mir vielleicht auch nie wieder leichtfallen. Ich versuchte es zu verstehen. Versuchte zu verstehen, was passieren würde.
     Doch auch im Bad wurde ich nicht wacher. Das kalte Wasser half mir nicht dabei wach zu werden, auch nicht die Musik, die aus den Lautsprechern drang. Ja, wir hatten Lautsprecher. Und ja, die Musik war schrecklich. Ich hasste sie. Mit allem, was ich hatte. Ich hasste sie. Ich hasste alles davon. Und würde es wohl immer hassen.
     Nach meiner kurzen Dusche zog ich mich an. Die junge Frau, die mir im Spiegel entgegenblickte, war schon lange nicht mehr ich. Ihre Haare waren frisch gemacht, nach hinten zu einem Zopf gebunden, ihre Wimpern getuscht und ihre Lippen voller Lipgloss. Das Lächeln auf ihren Lippen war falsch, gezwungen. Es wirkte wie eine einstudierte Grimasse, nur um die anderen von sich fernzuhalten. Das war, was ich im Spiegel sah. Diese Frau sah ich im Spiegel. Niemanden sonst. Niemanden sonst sah ich im Spiegel.

Him Or BetterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt