Charon der Fährmann (Prolog)

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Die Seelen sind still, nur das leichte Plätschern des Wassers, sobald ich mit dem Skull das Wasser teile, erfüllt die Dunkelheit. Die Fähre schwankt leicht, schaukelt hin und her. Ich weiß nicht, wann Tag und Nacht wechseln, ob es oben, außerhalb der Unterwelt, das Reich meines Herrschers, hell oder dunkel ist. Noch nie erblickte ich den Tag die strahlende Sonne. Sonnenstrahlen, die stelle ich mir wunderschön vor. Immer wieder denke ich daran, um dem trüben, tristen Dasein zu entfliehen. Nie werde ich die Sonne oder den Mond sehen, nie Blumen blühen sehen oder eine sanfte Brise spüren. Nie werde ich ruhen können; kann mich nicht entsinnen, ob ich je die Erholung des Schlafes genoss. Ich hörte schon etliche Male das Wehklagen der Seelen, die einst Menschen waren. Sie klagten über Wünsche und Träume, die nie in Erfüllung gehen würden, über Familie und Freunde, die sie im Stich ließen.

Die meisten brabbelten, flüsterten oder fluchten leise vor sich hin; einige schrien es heraus. Sie klagten über Dinge, die sie verlieren würden oder verloren haben. Der Tod lässt die Seelen der Menschen nicht kalt. Sie waren nicht bereit zu sterben und konnten den Gedanken nicht ertragen, nicht in den Himmel zu, sondern in die „Hölle“ zu kommen.

Von wegen Hölle, nur weil wir nicht in den einen christlichen Gott haben oder andere Götter, die euch Menschen irgendwelche Barden vor dichteten und es düster ist, ist das hier nicht gleich die Hölle. Natürlich ist der Ort, an den ich sie bringe, auch kein Luxusparadies, aber immer noch besser als alles andere im Hades. Sie würden durch den Fluss Lethe geführt werden und all ihren Schmerz und ihr Leid vergessen. Auch ihre Freude und Hoffnung, doch wenn man mich fragen würde, ist es ein Segen. Mein Körper und Geist sind müde. Gern würde ich dem hier entfliehen und vergessen, aber wenigstens ein Leben geführt haben, bevor ich dem Tod entgegengehe. Es gibt auch außergewöhnliche Seelen. Sie haben keine Angst, sie lächeln. Sie erzählen mir von ihrem Leben, vom Schönen und vom Schlechtem. Dinge, die die Zeit sie gelehrt hat und Dinge, die ihnen nur Leid brachten. Sie erzählen mir von dem Licht, obwohl sie es eigentlich nicht tun.

In den Worten der Seelen, die besonders sind kann man das Lächeln in der Stimme hören, obwohl sie keinen Körper mehr haben. Man kann die Freude, die Hoffnung und das Licht in ihren Erzählungen spüren. Die Seelen der Menschen, die besonders sind, strahlen beinahe so hell, dass sie der perfekte Gegensatz zu dem Faden, tristen Dasein hier sind. Sie konnten sich Tag für Tag an allem erfreuen, dass es regnet und hagelt, dass die Sonne scheint, dass die Blumen blühen, dass die Vögel zwitschern, die Blätter fallen, die Welt in Weiß getaucht wird. Doch was ist weiß? Eine so reine und heilige Farbe male ich mir aus, dass man mit einem bisschen davon die einsame Dunkelheit erhellen könnte. Das Wunder der Natur, was dort oben blüht und hier unten verrottet. Nichts kann hier blühen. Die Augen brennen einem immer zu an der staubigen, stickigen, kalten Luft; alles wirkt müde, bedrohlich und einsam, fade, tot. Es ist trostlos, hier unten. Es riecht immerzu, als würde etwas verrotten oder verwesen. Meine Nase ist wahrscheinlich für immer verdorben für diese schönen Gerüche von dort oben. Die gehende Lehre und die hellen Seelen, eine Farce, ein Ebenbild von dem, nachdem ich mich sehne und verzehre, doch nie haben kann.

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