Lilith Meine Begegnung mit dem Fährmann
Ein tiefgehender fauliger Gestank drang durch jede Pore meines Körpers, der mir beinahe die Luft zum Atmen nahm. Die Schwärze, die mich umhüllte, machte es mir nicht möglich, auch nur einen Zentimeter weit zu sehen. Ich schmeckte den Gestank des Schwefels auf meiner Zunge. Kein Laut war zu hören, nur das pulsierende Blut in meinen Ohren und mein Herz, das gegen meine Brust sprang. Es gab kein oben, kein unten. Ich konnte mich nicht orientieren. Der Drang, mich zu bewegen, wurde übergroß. Ich versuchte mich fortzubewegen, doch jede Bewegung war nur langsam und schleppend möglich, was das ganze Unterfangen nicht gerade beschleunigte. Die schwefelige Masse, durch die ich mich zu bewegen versuchte, erschwerte es mir erheblich. Der Boden unter mir tut sich auf und ich stürze hinab; ich falle beinahe schwerelos durch den Raum. Die Zeit fühlt sich seltsam gedehnt an und ich versuche die aufkeimende Panik vor dem Aufprall niederzukämpfen.Doch plötzlich falle ich nicht mehr, sondern stehe aufrecht in einer kleinen Grotte. Ich habe nicht viel Zeit darüber verwundert zu sein, denn ein undefinierbares, unmenschliches, gequältes Kreischen hallte an den tropfnassen Höhlenwänden wieder. Ich schreckte heftig zusammen und versuchte das Kreischen zu orten. Mein Atem stockte und mein Puls beschleunigte sich. Dort verharrten einige seltsam körperlose Kreaturen. Man konnte einen groben Umriss erkennen, doch eigentlich auch nicht. Ihre Erscheinung war schemenhaft und sie schwebten knapp über dem Boden. Wie eigenartig, dachte ich eingeschüchtert, aber auch neugierig. Von ihnen scheint keine Bedrohung auszugehen, dachte ich mir. Sie wirken beinahe harmlos, was aufgrund ihres Aussehens und ihrer Erscheinung beinahe absurd war. Ich schritt voraus, während meine Schritte ein schmatzendes Geräusch von den Wänden widerhallen ließen. Ich näherte mich langsam den Kreaturen, die mich nicht zu beachten schienen. Aus der Nähe betrachtet, konnte man tatsächlich immer noch keine genaue Gestalt ausmachen. Ihr schemenhafte schwefliger Körper wirkt so wie Rauch, der sich bündelte. Als könnte er sich jeden Moment wieder auflösen. Und doch war es mir nicht möglich, durch es hindurchzublicken.
Ich fröstelte und wandte mich von den Schemen ab, um mich umzuschauen. Kleine Wassertropfen perlten von den Grottenwänden und das leichte Plätschern wirkte beruhigend. Als ich ein wenig weiter fortschritt, eröffnete sich mir der Blick auf einen riesigen breiten Fluss, bei dem ich kein Ende erahnen konnte. Das Wasser lag still und das schwache Licht, das sich in dem Wasser widerspiegelte, wirkte beinahe hypnotisierend. Ich verspürte plötzlich den großen Drang, in den Fluss zu waten. Es ist, als würde er mich rufen, mir leise Hirngespenster einzupflanzen. Ich hockte mich auf den Boden und schöpfte etwas Wasser mit meinen Händen. Ich führte es an meine rissigen Lippen. Meine Kehle fühlte sich auf einmal staubtrocken an und ich befeuchtete durstig meine Lippen, doch bevor ich etwas davon trinken konnte, gewann etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Leichte widerhallende Wellen des Wassers kündigten bereits an, worauf ich noch keinen Blick erhaschen konnte. Aus den Nebelschwaden tat sich der Bug eines Ruderbootes auf. Ich machte eine hochgewachsene Gestalt aus, die aufrecht im Ruderboot stand und Dan Skull ins Wasser stach. Die Gestalt stellte sich als ein junger Mann heraus. Er hatte kurze schwarze Haare und himmelblaue Augen, die mich musterten, als wäre ich ein Fremdkörper. Er war außerordentlich attraktiv, fiel mir auf. Wie eine Mischung aus Patrick Dempsey und Brad Pitt. Mir blieb beinahe die Spucke weg und ich konnte kaum den Blick abwenden. Obwohl man bedenken muss, dass seine Robe doch sehr, wie soll ich sagen... wirklich nicht in dieses Jahrhundert passte. Doch selbst in dieser schlichten Robe sah der Fremde irgendwie ganz natürlich aus.
„Davon würde ich dir abraten“, gab der Mann mit einer tiefen, rauchigen Stimme zu bedenken. „Wovon?“, fragte ich verwirrt. Das Wasser, das ich in meinen Händen gebündelt hatte, plätscherte ungehindert zurück in den Fluss. Der Fremde legte am Ufer an und schaute mich an, als sei ich schwer von Begriff. „Das Wasser aus dem Fluss zu trinken“, erwiderte er. „Warum denn nicht?“, entgegnete ich neugierig.“ aus. „Aus dem Fluss Lethe zu trinken ist vielleicht nicht die schlauste Entscheidung, wenn du nicht alles vergessen willst“, sagte er und schaute überheblich auf mich herab. „Alles vergessen? Bist du noch ganz bei Trost? Das ist Wasser“, konterte ich aufgebracht. Sein Mund nahm einen scharfen Zug an und seine Miene verdunkelte sich. „Was willst du hier, Mensch? Und wie bist du überhaupt hergekommen?“ Ich wunderte mich über seine eigenartige Wortwahl. „Mensch“. Warum nannte er mich Mensch? Er war doch ganz offensichtlich selbst einer. Und warum muss er gleich so unhöflich sein? „Wie meinst du das? Wie ich hergekommen bin? Ich war irgendwie... einfach hier. „Wo sind wir überhaupt?“, fragte ich neugierig. Er schaute mich genervt an und stieg aus dem Boot und trat neben mich. Er ignorierte meine Frage und ging auf die schemenhaften Kreaturen zu, die plötzlich in Bewegung kamen und sich in Scharren um ihn versammelten.
„Hallo, hast du mich nicht gehört? „Ich habe dir eine Frage gestellt“, sagte ich aufgebracht darüber, dass er mich einfach ignorierte. „Ich habe dich gehört, Mensch, aber du hast hier nichts zu suchen und ich begebe mich in Schwierigkeiten, wenn ich mit dir rede“, erwiderte er und betonte, dass Mensch dieses Mal, als würde es ihn anekeln. Empört über sein unhöfliches Verhalten schritt ich auf ihn zu. „Na hör mal, mir eine einfache Frage zu beantworten bringt dich ja wohl nicht in Schwierigkeiten“, empörte ich mich. „Außerdem bist du auch ein Mensch, also tu nicht so, als wärst du irgendwas Besonderes“. Er stieg ein freudloses Lachen aus. „Ein Mensch?“, erwiderte arrogant. Er hob seinen Arm und öffnete seine Handfläche. Er wartete auffordernd. Die schemenhaften Kreaturen gaben ihm eine goldene Münze und setzten sich nach und nach in das Boot.
„Was genau sind sie?“, fragte ich, worauf er tief seufzte. „Es sind Seelen“, behauptete er knapp, ohne sich weiter zu erklären. „Hast du sie noch alle?“, maulte ich verwirrt. „Tja, ich höre, was sind sie denn deiner Meinung nach?“, konterte er gelassen. Ich verstummte, weil mir selbst keine Antwort darauf einfiel. „Wer bist du?“, fragte ich, anstatt einer Antwort. „Ich bin ein Fährmann. Ich segele Seelen über den Fluss hinab in den Hades.“ „Den Hades?“, fragte ich völlig verwirrt. Nun schaute er mich an, als hätte ich endgültig den Verstand verloren. „Ihr Menschen wisst aber auch gar nichts, oder?“ Ich möchte ihm gerade meine Meinung geigen, als eine laute Stimme wahrnehme. „Lilith?“, rief eine mir allzu vertraute Stimme. „Ja?“, fragte ich und sah, wie der Mann eine Augenbraue nach oben zog und mich fragend anschaute. „Lilith?“, rief die Stimme erneut, doch auch dieses Mal schien er es nicht mitzukriegen. Ich spürte ein Rütteln, das meinen Körper erschütterte und mich endgültig auf aus dem Hier und Jetzt riss. Die Grotte löste sich auf und ich stellte fest, dass ich in meinem Bett lag. Meine Mutter rief aus dem Nebenzimmer aus: „Jetzt steh endlich auf, du musst zur Schule.“ Alles nur ein Traum? Wie eigenartig.
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Charon der Fährmann
FantasyCharon der Fährmann aus der griechischen Mythologie sehnt sich nach viel mehr als dem trüben Darsein im Hades, doch scheint keinen Ausweg zufinden, bis eines Tages ein seltsamen Mädchen in sein Reich eindringt.