Aufwachen

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Noch bevor sie die Augen öffnet, bemerkt Lina das grelle Licht um sie herum und spürt, dass sie in einem Bett liegt. Ein steriler Geruch von Seife und Desinfektionsmittel steigt ihr in die Nase. Ihr Kopf dröhnt fürchterlich, jede kleinste Bewegung löst noch stärkeren Kopfschmerz aus. Sehr langsam dreht sie ihren Kopf nach links und öffnet vorsichtig die Augen. Sie sieht ihre Mutter und als diese ihren Blick erwidert, kommt sie auf Lina zu.
„Lina, mein Schatz.", spricht sie ruhig. „Wie geht es dir?" Die Frau mit den langen, glatten aschblonden Haaren sieht ihre Tochter sehr liebevoll und doch besorgt an.
„Durchwachsen", erwidert Lina müde und vor Kopfschmerz stöhnend. Ohne den Kopf zu bewegen, lässt sie ihren Blick etwas in der Gegend herumgehen und ihr wird klar, wo sie sich befindet. Die Wände sind in einem hellen Pastellblau angestrichen, an der Wand stehen mittelhohe Regale, auf denen ein paar Blumen stehen und hier und da hängen Fotografien von Landschaften an der Wand. Der Boden ist mit hellem Linoleum ausgelegt und die Tür hinter ihrer Mutter ist ebenfalls in einem hellen Holzton. Alles wirkt angenehm, aber dennoch minimalistisch und unbewohnt.
„Ich bin im Krankenhaus?", wundert sie sich.
„Sie hatten einen Unfall auf der Arbeit.", erklingt eine ihr fremde Frauenstimme. Lina dreht ihren Kopf nach rechts und ihr Kopf schmerzt bei jedem Centimeter Bewegung. Dann sieht sie eine Ärztin neben ihrem Bett stehen. Sie hat ihre roten Haare zu einem Zopf zusammengebunden und trägt eine weiße Hose und eine weiße Bluse. Ihr Blick ist einfühlsam, aber erweckt nicht den Eindruck, dass es um etwas lebensbedrohliches geht.
„Was ist denn passiert?", will Lina wissen und sieht das Schild an der Bluse der Frau, auf dem „Dr. S. Linz – Oberärztin" steht.
„Sie sind rückwärts von der Bühne gestürzt und auf den Kopf gefallen.", erzählt die Ärztin.
„Oh." Mehr kann Lina nicht sagen. Zum einen, weil sie sprachlos ist und zum anderen weil ihre Kopfschmerzen eine Menge Kraft und Energie aus ihr saugen.
„Wissen Sie, wer sie sind?", fragt die Ärztin.
„Ja, ich bin Lina Kosch.", antwortet die junge Patientin.
„Wie alt sind Sie?", fragt die kleine, attraktive Frau weiter.
„Ich bin 27."
„Welches Datum haben wir heute?"
„Heute ist der 29.07.", entgegnet Lina erneut. Die zierliche Rothaarige notiert jede Frage samt Linas Antwort auf einem Blatt an ihrem Klemmbrett und nickt zustimmend.
„Weißt du, wer ich bin?", unterbricht die Mutter.
„Na klar, meine Mama.", schmunzelt Lina liebevoll.
„Haben Sie Schmerzen?", erkundigt sich die Ärztin.
Lina nickt. „Ja, mein Kopf tut sehr weh."
„Ich kann Ihnen etwas gegen die Schmerzen geben. Wenn Sie sonst noch etwas benötigen, sagen Sie bitte gleich Bescheid.", belehrt die 40-jährige. Lina nickt wieder.
„Warum bin ich von der Bühne gefallen? Was für eine Bühne?", fragt sie dann verwirrt.
„Die Bühne des Stadttheaters, sie hatten dort eine Probe."
Lina sieht sie nur verständnislos an. „Was für eine Probe?"
„Auf Ihrer Arbeit. Sie sind Musicaldarstellerin.", erklärt ihr die Ärztin.
„Wirklich?" Die junge Frau im Krankenbett kann nicht wirklich glauben was sie hört. Der Versuch, sich aufzurichten wird jäh durch Linas starke Müdigkeit und pochende Kopfschmerzen unterbrochen. Sie weiß noch, dass sie Musik liebt und dass es ihre große Leidenschaft ist, aber dass sie das beruflich macht, ist ihr nicht bewusst. Innerlich wird sie unruhig und sie versteht nicht, was mit ihr los ist.
„Erinnern Sie sich nicht an ihren Beruf?", hinterfragt die Ärztin aufmerksam. Lina schüttelt den Kopf und kapiert es selbst nicht, warum sie das nicht weiß.
„Nun, sie sind sehr kräftig auf den Kopf gefallen, haben eine Gehirnerschütterung und es kann sein, dass manche Erinnerungen etwas verschüttet sind. Wir werden noch ein paar Untersuchungen und Tests mit Ihnen durchführen. Aber machen Sie sich bitte keinen Druck. Das erschwert Ihnen die ganze Situation nur."
„Okay. Na gut. Danke.", meint Lina und schließt ihre Augen, um die Kopfschmerzen wegzudrücken. Die Ärztin gibt ihr Schmerzmittel und verlässt den Raum. Lina nimmt die Tabletten mit etwas Wasser zu sich und lässt ihren schmerzenden Kopf dann wieder stöhnend ins Kissen sinken. Sie sieht zu ihrer Mutter und seufzt.
„Ach Lina," säuselt die braunäugige Frau. „Es wird dir bestimmt bald wieder gut gehen.", beruhigt sie ihre Tochter.
„Mama, ich habe einen Teil meines Gedächtnisses verloren! Ich habe keine Ahnung was ich beruflich mache und warum ich von dieser Bühne gefallen bin." Die junge Brünette ist komplett verwirrt und besorgt, doch ihre Mutter versucht sie weiter zu beruhigen.
„Schatz, du hast gehört, was Frau Doktor Linz gesagt hat. Wenn du dich unter Druck setzt, wird es nur noch schwerer. Du musst dich noch schonen und ausruhen." Liebevoll streichelt sie ihrer Tochter den linken Arm.
„Ich versteh einfach nicht, was los ist, Mama.", jammert Lina. Gefühlt tausende von Fragen schießen ihr durch den Kopf, aber ihr aktueller Zustand blockiert jede Mühe, die Ungewissheiten jetzt gleich aus dem Weg zu räumen.
„Das verstehe ich ja. Aber mit der Zeit wird es bestimmt wieder. Bis dahin brauchst du Ruhe." Ihre Blicke streicheln Linas Gesicht und ihre Finger fahren langsam über Linas Wange.
„Ich bin müde.", murmelt Lina entkräftigt und versucht sich innerlich zu beruhigen.
„Dann schlaf ruhig noch eine Weile. Ich kann heute Abend wieder herkommen.", lächelt ihre Mutter. Lina nickt, lässt sich ins Bett sinken und verabschiedet sich leise von ihrer Mutter. Die brünette 27-jährige schließt ihre Augen und schläft kurz darauf ein.

Bis du dich wieder kennstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt