Wie alles begann, Teil 1

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Juniper



Ein dumpfer Schlag war zu hören, dann ein weiterer. Begleitet von einer spöttischen Stimme:
„Hast du jetzt endlich genug, du Drecksbalg?"
Eine zweite, etwas tiefere Stimme knurrte angepisst.
„Überleg dir das nächste mal besser vorher, mit wem du dich anlegst! Und jetzt verpiss dich, du kleine Ratte!"
Eine Dritte lachte dümmlich.

Ein harter Aufschlag erklang, dann ein leises, schmerzerfülltes Stöhnen. Vorsichtig, aber unbestreitbar neugierig, näherte sich ein kleines, schwarzhaariges Mädchen namens Juniper den derben Stimmen.
Hier in den Grey Terminals, der gesetzlosen Zone außerhalb der Stadt, war Neugierde selten eine gute Eigenschaft - erst recht für kleine Kinder und noch mehr für kleine Mädchen. Aber das Stöhnen hatte sich so schmerzerfüllt angehört... ihr gutes Herz konnte das unmöglich überhören.

Sehr aufmerksam spähte sie um einen großen Müllberg herum. Drei große, finster aussehende Kerle standen um einen kleinen Körper herum, der sich mühevoll vom Boden erhob. Erschrocken sah sie, dass es sich um einen Jungen handelte, schätzungsweise sogar etwas jünger als sie selbst und mit ebenso schwarzen Haaren. Er sah übel zugerichtet aus; seine Nase blutete, er hatte blutige Schrammen im Gesicht, an den Armen und an den Knien und seine Klamotten waren dreckig und an mehreren Stellen zerrissen. Doch nichtsdestotrotz rappelte er sich auf und ballte kampflustig die Fäuste, was die Männer mit einem hämischen Lachen quittierten.

„Och wie putzig, der Welpe will weiterspielen!", höhnte einer von ihnen, während sein Kumpane dem geschwächten Jungen ohne Vorwarnung in die Seite trat. Der Dritte schlug munter auf ihn ein und lachte dabei. Als er sich kaum noch rührte, packte der Größte ihn vorne am Kragen seines roten Shirts, spuckte ihm ins Gesicht und warf ihn achtlos weg. Mit einem Ächzen flog der Kleine durch die Luft und prallte unmittelbar neben dem sich versteckenden Mädchen auf.
Diesmal blieb er liegen.

Die Männer entfernten sich feixend. Juniper wartete noch einen Moment, dann sprang sie zu dem Jungen.
Er rührte sich nicht; und das Mädchen tastete panisch nach seinem Puls.
„Bitte sei nicht tot... oh, bitte sei nicht tot!", flüsterte sie flehend, atmete dann jedoch erleichtert auf als sie an seinem Hals das schwache Pochen fühlen konnte. Er war nur bewusstlos. Aber er war verletzt - und offenbar allein. Das stellte sie vor ein neues Problem.
„Was mach ich denn jetzt bloß? Ich hab kein Verbandszeug dabei, das ist in meinem Versteck... und es wird doch bald dunkel, ich kann dich doch nicht einfach hierlassen!" In der Dunkelheit kamen eher noch schlimmere Gestalten hervor als diese dummen Schläger. Unsicher zupfte sie an ihrer zerschlissenen Jacke herum, doch im Grunde gab es nur eine einzige akzeptable Lösung: Juniper musste ihn mitnehmen und sich um ihn kümmern. Ob sie das schaffte...? Der Junge war sicher nicht leicht und sie selber auch alles andere als kräftig.
Egal, sie musste es versuchen!
Kurzentschlossen kniete sie sich neben ihn, packte einen seiner Arme und zerrte ihn mühsam auf ihren Rücken. Schwankend erhob sie sich. Es war echt schwer, aber vielleicht schaffbar.

Langsam schleppte Juniper ihre Last aus den Grey Terminals hinaus in den angrenzenden Dschungel.
Verbissen kämpfte sie um jeden Schritt, musste mehrmals kurz anhalten, um ihre zitternden Beine zu entlasten. Doch eine längere Pause gönnte sie sich nicht; zu viele wilde Tiere könnten sie entdecken... Das Mädchen musste es in ihr Versteck schaffen, denn nur dort waren sie vorerst sicher!
Zum Glück war es nur ein relativ überschaubares Stück Fußweg, das sie bewältigen musste. Unweit der Müllhalde schlängelte sich ein kaum sichtbarer Wildpfad ein Stück den Berg hinauf, bis er hinter einer Wand aus Schlingpflanzen und Gestrüpp zu einem verborgenen Teich führte. Diesen Weg schleppte Juniper den bewusstlosen Jungen nun und stöhnte erleichtert, als sie das Schilf des Teiches endlich sehen konnte. An dessen Ufer ragte ein gewaltiger Mangrovenbaum mit ausladenden Wurzeln empor, wo sie sich ein Geheimversteck geschaffen hatte.

Durch den gut mit Pflanzen verborgenen Eingang schob sich die Schwarzhaarige kurz nach Einbruch der Dunkelheit in eine von Flechtwerk und Holzbrettern ausgekleidete Wurzelhöhle und sah sich aufmerksam um, bevor sie ihren Unterschlupf ganz betrat.
Viel zu sehen gab es ohnehin nicht: ein Großteil des Erdbodens war mit selbstgeknüpften Strohmatten ausgelegt, einige arg in Mitleidenschaft gezogene Bücher standen penibel ordentlich aufgereiht an den Wänden, ein kleiner Stapel Kleidung lag ebenso ordentlich in einer Ecke neben ein paar ausrangierten Holz- und Metallkisten und in einer Nische befand sich ihr Schlafplatz, der eher einem Nest aus Stoffresten, zerschlissenen Decken und alten Kissen glich. Zumindest waren keine wilden Tiere oder andere unerwünschte Besucher eingedrungen.

Vor Anstrengung ächzend, legte Juniper den noch immer ohnmächtigen Jungen auf ihren Schlafplatz und schnaufte erschöpft.
„Mensch, du bist vielleicht schwer...", murmelte sie zu sich selbst und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann zündete sie eine Öllampe an und betrachtete ihn zum ersten mal voller Neugierde genauer.
Sein Gesicht hatte selbst im bewusstlosen Zustand einen rebellischen Ausdruck, wohingegen seine Sommersprossen eher niedlich wirkten. Sie konnte mehrere fast verheilte Verletzungen und verblasste blaue Flecken erkennen, was ihr sagte, dass das nicht seine erste Prügelei gewesen war. Doch trotz seines wilden Aussehens wirkte er seltsam verloren.

„Weshalb hast du dich denn mit diesen Typen angelegt? Haben sie dir zuerst wehgetan oder dir was weggenommen? Und warum bist du nicht weggelaufen? Oder liegengeblieben? Es muss doch ganz arg wehgetan haben, als du nach den ersten Prügeln wieder vom Boden aufgestanden bist! Du hast doch bestimmt gewusst, dass du allein keine Chance gegen die Kerle gehabt hast....", fragte sie sich bedrückt. Der Junge tat ihr leid, doch gleichzeitig bewunderte sie ihn aufrichtig für so viel Mut und Tapferkeit! Sie hätte einfach nur Angst vor den Männern gehabt und wäre weggelaufen...

Doch viel Zeit, um darüber nachzugrübeln, gönnte sie sich nicht. Schließlich war er immernoch verletzt!
„Keine Sorge, ich kümmere mich um dich! Ich pass auf dich auf!", sprach sie ihn liebevoll an und tippte scheu an seine Wange.
Zu aller erst lief sie nochmal nach draußen und schöpfte eine Schüssel Wasser aus dem Teich. Zurück bei dem Jungen tauchte sie einen Lappen ein; dass der Schläger ihn angespuckt hatte, war ihr besonders nahe gegangen... fürsorglich wischte sie die besudelte Stelle ab.
Zügig förderte sie nun eine beachtliche Menge an Verbandszeug aus einer der Holzkisten zu Tage und lächelte dabei. Zum ersten Mal brauchte sie die Sachen für jemand anderen und nicht für sich selbst! Zum ersten Mal konnte sie sich um jemanden kümmern. Und zum ersten Mal fühlte es sich gut an, Verbandssachen zu benutzen... sie fühlte sich fast wie eine echte Krankenschwester. Oder eine Ärztin! Ja, das würde ihr gefallen.
Eifrig machte sie sich ans Werk.

Dafür, dass sie erst sechs Jahre alt war, versorgte Juniper den kleinen Unbekannten äußerst geschickt. Sie reinigte seine blutenden Wunden und verband sie. Klebte Pflaster auf die Abschürfungen und trug sogar eine einfache, selbst hergestellte Salbe auf die üblen Prellungen auf. Auch den übrigen groben Dreck wusch sie von seiner Haut und die große Beule an seiner Stirn kühlte sie mit einem feuchten Tuch. Als er fertig und zugedeckt war, atmete sie befreit auf und betrachtete ihr Werk. Es war zufriedenstellend, auf jeden Fall würde es ihm helfen und seine Schmerzen lindern, da war sie sich sicher!

Juniper gähnte.
Sie war echt fix und fertig! Den ganzen Tag hatte sie schon auf der Müllhalde verbracht, ohne etwas Schönes zu finden. Gegessen hatte sie auch nur ein kleines Stück Brot... sie hätte ja die Möglichkeit, etwas zu essen zu bekommen, aber dafür müsste sie zurück in die Stadt gehen... allein der Gedanke ließ sie erschaudern. Nein, noch hielt sie es aus!
Kurz schlüpfte sie nochmal aus der Höhle, um sich im Teich zu waschen und zu trinken, sowie eine Flasche Wasser aufzufüllen, falls der Junge nachts wach werden und Durst haben sollte.
Dann endlich legte sie sich neben das provisorische Bett auf eine ihrer selbstgeknüpften Matten. Es war ein langer Tag gewesen... aber dennoch lächelte sie zu dem Jungen. Es war ein unerwartet schönes Gefühl, ihn hier zu haben. Endlich einmal nicht allein zu sein...
„Gute Nacht! Hoffentlich geht's dir morgen wieder besser!", flüsterte sie ihrem Gast zu, löschte das Licht und schlief vor lauter Erschöpfung fast sofort ein.

~*~*~*~*~*~*~*~*~*

Es war noch dunkel, als Juniper jäh aus dem Schlaf gerissen wurde. Zuerst war sie verwirrt, was sie wohl aufgeweckt hatte, doch dann hörte sie es: ein herzerweichendes Stöhnen. Sofort machte sie das Licht wieder an, sah alarmiert zu dem Jungen - und was sie sah, tat ihr in der Seele weh.
Er warf sich schweißüberströmt auf den Decken herum, die Fäuste so fest geballt, dass die Knöchel weiß hervortraten. Tränen rannen über sein Gesicht und er stöhnte wieder. „...bin kein... Monster...", stammelte er abgehakt. „...hätte... nie zur... Welt kommen dürfen... leben... verflucht..."

Juniper kamen bei seinem Anblick und diesen furchtbaren Worten selbst die Tränen. Die pure Verzweiflung, die ihn umgab, war fast schon mit den Händen greifbar - was um alles in der Welt hatte er nur durchmachen müssen, dass es ihn auf so grausame Weise bis in seine Träume verfolgte?
Mit beiden Händen griff sie nach seinen Fäusten und hielt sie fest.
„Schhhht... alles wird gut. Du bist kein Monster! Keiner ist verflucht. Ich bin bei dir, ja? Du musst keine Angst haben!", sprach sie unbeholfen, aber so beruhigend wie möglich auf ihn ein und drückte seine Finger.
Es schien auch tatsächlich etwas zu helfen; er hielt angespannt still, doch stattdessen begann er nun unkontrolliert zu zittern. Es war schier unerträglich für sie, ihn so zu sehen, also legte sich Juniper kurzentschlossen neben ihn, umschlang ihn mit beiden Armen und drückte sich so fest sie konnte an ihn. Dabei wünschte sie sich von ganzem Herzen, seine schlimmen Gefühle einfach verschwinden lassen zu können... dass ihre eigene Ruhe auf ihn übergehen würde.

Und wirklich: langsam beruhigte er sich.
Sein Herz schlug spürbar langsamer, seine Gesichtszüge entspannten sich und auch seine Finger ließen wieder locker. Schließlich begann er nach einer Weile leise zu schnarchen. Erleichtert seufzte Juniper, löste ihren Klammergriff vorsichtig, blieb jedoch an ihn geschmiegt liegen. Sie war einfach zu müde, um aufzustehen... und außerdem machte sie sich Sorgen, dass die bösen Träume zu ihm zurückkamen, wenn sie ging.

Und... es fühlte sich so schön an.
Für einen Moment nicht einsam zu sein... für einen kurzen Augenblick das Gefühl zu haben, erwünscht zu sein.
So schön...

Junie - SpecialsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt