Kapitel 25 (Eileen)

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Manchmal nahm das Leben Wendungen, die man sich in den kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können. Manchmal fand man sich auf einem Weg wieder, den man nie geglaubt hatte einzuschlagen, hatte doch jeder Schritt in die andere Richtung geführt. 

Eileen war meilenweit entfernt von jenen, mit denen ihr Leben einst verknüpft gewesen war, ganz allein in der dunklen Ödnis, die vor ihr lag. Ihre letzte Freundin hatte sie verraten, um sich das Vertrauen ihres Geiselnehmers zu erkaufen, ihren Bruder hoffte sie am Leben bei einem anderen König und das Mädchen, das sie einst war, war schon seit Jahren tot, erstickt unter der Last ihrer Trauer. 

Manchmal musste man selbst zum Monster werden, um eines zu besiegen.

Ein Tag war vergangen, seit sie Ragnar um die verfrühte Heirat gebeten hatte. Er hatte eingewilligt und innerhalb der nächsten Woche würden sie vermählt. Einst hatte die Prinzessin sich auf diesen Tag gefreut. Ein Tag voller Glück, an dem sie Arturs Königin geworden wäre, inmitten ihrer Familie. Ihr Vater hätte sie hergegeben, ihre Mutter sie beruhigt, wäre Eileen vor Nervosität rastlos gewesen. Magnus hätte gelächelt ... Nichts weiter als ein ferner Traum, eine Erinnerung aus einem anderen Leben. 

Es war später Nachmittag, die Sonne hatte schon ihre Reise hinab zum Horizont begonnen. Scharen an Singvögeln erfüllten den Garten mit ihren Melodien. Einige der kleinen Geschöpfe erkundeten den Innenhof zu Fuß und hüpften fröhlich umher im Gras zu Eileens Füßen. Der Tag war warm gewesen, ein Vorbote des nahenden Sommers, und die junge Frau hatte jeden Sonnenstrahl in sich aufgesaugt, als wäre es der letzte.

Sollte zwischen Fynn und Ragnar eine Fehde herrschen, seit dem erzwungenen Kuss, versteckten sie es gut. Wie zuvor waren sie zu jeder Besprechung zu zweit, aßen gemeinsam und heute Morgen waren sie sogar ausgeritten, zur Jagd. Laut den beiden war es wohl die beste Zeit, um Wildschweine zu jagen. Sie würde ja zum Abendessen erfahren, wie erfolgreich sie dabei waren.

Doch das Warten auf Magnus' Antwort zerrte an ihren Nerven. Eine Woche war vergangen, seit Sara den Brief nach Etrat verschickt hatte. Mittlerweile musste er Lille Fjellet erreicht haben und mit etwas Glück lag er bereits in ihres Bruders Händen. Jetzt, wo sie keinen Vertrauten mehr im Schloss hatte, war es ungemein schwieriger, seinerseits eine Botschaft zu erhalten. Sie betete, dass ihre Freundin alsbald Dødessted erreichte und die zweite Nachricht überbrachte, in der sie die nötigen Schritte anwies, um ungesehen miteinander kommunizieren zu können.

Aber bis dahin konnten Wochen vergehen. Wochen der Unwissenheit, in denen sie weiterhin von Angst geplagt wurde. Nun nicht mehr nur um Magnus, sondern auch das Mädchen, das er liebte. Die Reise, die vor ihr lag, war beschwerlich und voller Gefahren. Ragnars Soldaten, die nach ihr suchten, waren fast schon harmlos gegen den drohenden Hunger, sollte ihr das Geld ausgehen, die Kälte und Rauheit der Berge und nicht zuletzt die stete Gier der Männer nach schönen, jungen Frauen.

Wie so oft konnte sie nichts tun, außer auf das Wohlwollen der Götter zu vertrauen. Bald, in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft, würde Eileen die Macht haben, jene, die sie liebte zu beschützen. Wenn Ragnar nicht mehr war, wenn Magnus auf dem Thron saß und Solsriken wieder zu dem friedlichen Land wurde, in dem sie aufgewachsen waren. Dann würde sie sich die Zeit zurück holen, die ihr genommen wurde, die Kindheit, der man sie entrissen hatte. Ja, bald.

Der eben noch sanfte Wind wurde zunehmend kälter, jetzt, da die Sonne immer schneller sank, und das Tuch um ihre Schultern reichte nicht mehr aus, um die Prinzessin warm zu halten. Es würde ohnehin demnächst zum Abendessen gerufen werden, also beschloss sie, wieder hinein zu gehen.

Auf den Fluren begegnete sie einigen Bediensteten, die gerade die ersten Kerzen entzündeten. Obwohl Eljen und Lionhàn seit drei Jahren tot waren, verbeugten sie sich noch immer vor der einstigen Königstochter und sie genoss die kurzen Momente der Vergangenheit. Je älter sie wurde, desto mehr bemerkte sie, was diese Menschen tagein tagaus leisteten, wie sie lautlos durchs Schloss huschten, um diesem oder jenem zu Diensten zu sein. Alles, was sie taten, geschah ungesehen. Man blickte durch sie hindurch, sagte niemals Danke. Auf eine Art kam es ihr ungerecht vor, auch, wenn sie es nie anders gekannt hatte. Doch war etwas richtig, nur, weil es schon immer so gewesen war?

Die Luft im Inneren war trocken und roch abgestanden. Der Unterschied zum frischen Frühlingsduft im Garten war mehr als deutlich. Vielleicht war es an der Zeit, mehr Fenster in die Mauern zu schlagen. Die Sonne würde allen sicher gut tun und sie bräuchten weniger Kerzen auf den Gängen. Eileen schwor sich, es in Angriff zu nehmen, wenn auch nur, um sich während des Wartens auf Neuigkeiten von ihrem Bruder abzulenken. Er würde sich sicher auch darüber freuen, wenn er zurück kehrte. 

Ein unerwünschter Gedanke schoss ihr, wie so oft in den letzten Tagen, durch den Kopf. 'Er wird zurück kehren' , versicherte sie sich immer wieder. Ja, das würde er gewiss. Und sie verfluchte diese kleine Stimme in ihrem Unterbewusstsein, die sie immer wieder daran zweifeln ließ. Unaufhörlich flüsterte sie ihr ins Ohr, wie ihr geliebter Bruder womöglich auf der Flucht umgekommen war und dass sie ihn wahrscheinlich nie wieder sehen würde, weil er tot in irgendeinem Straßengraben lag.

Nur schwerlich schaffte sie es, diese Ängste wieder in den Hintergrund zu drängen. Für das bevorstehende Essen mit dem König und seinem Bruder musste sie fokussiert sein, auf das, was sie im Hier und Jetzt tun konnte. So ein Fehler wie im Streit mit Ragnar durfte ihr nie wieder passieren, beim nächsten Mal hatte sie keinen Bauern mehr, den sie opfern konnte, um sich vor seinem Zorn zu retten. Jeder Zug, den sie tat, musste bedacht sein und bei einem so unvorhersehbaren Mitspieler, wie Fynn es war, musste sie auf alles vorbereitet sein.

Die junge Frau nahm noch einen tiefen Atemzug vor dem bevorstehenden Gefecht. Einmal hob und senkte sich ihre Brust unter dem  perlenbesetzten grünen Samt, dann betrat sie erhobenen Hauptes und bewaffnet mit ihrem Lächeln die Halle.

Ragnar saß am Ende der Tafel, vor sich einige Briefe und Karten, welche es waren, konnte sie nicht erkennen, denn er rollte sie zusammen, bevor sie einen zweiten Blick darauf erhaschen konnte. Der Jüngere stand an einem der hohen Fenster und sah durch das bemalte Glas hinaus auf die Hügel. Heute brannte kein Feuer, lediglich die Kerzen entlang der Wände waren entzündet und flackerten erschrocken, als sie den Raum betrat.

"Guten Abend" , kündigte sie ihr Erscheinen an, bevor sie gegenüber ihres Verlobten Platz nahm. Der Tisch war bereits gedeckt und die Kelche gefüllt, doch das Essen fehlte noch. Vom König kam nur eine verschluckte Erwiderung, wie auch nicht anders zu erwarten. Doch entging ihr nicht, wie sein Blick kurz an ihrer Erscheinung hängen blieb. Eileen trug ihre goldenen Haare kunstvoll hochgesteckt, verziert mit einem Diadem ihrer Mutter, und an ihren Ohren hingen teure Smaragde, die die durchdringenden, grünen Augen der Prinzessin widerspiegelten. Sie war gekleidet wie die Königin, die sie schon bald sein würde, wenn auch an der Seite eines falschen Königs. 

"Dir auch guten Abend, Eileen. Du siehst bezaubernd aus."

Natürlich waren Fynns Worte begleitet von einem süffisanten Lächeln. Er selbst war in das Silber gehüllt, das man so oft an ihm sah. Eine kunstvoll bestickte Weste und edelsteinbesetzte Ringe an seinen dünnen, langen Fingern. Er verstand sich wie sie darauf, zu jedem Kampf mit der angemessenen Rüstung zu erscheinen.

"Mein lieber Bruder erzählte mir schon von eurer bevorstehenden Vermählung" , fuhr er fort und lief langsam zu seinem Platz in der Mitte des Tisches. "Ich möchte euch meine Glückwünsche aussprechen." An seinem Stuhl angekommen blieb er stehen und sah ihr direkt in die Augen mit diesem unergründlichen Blick. "Du wirst sicher die schönste Braut, die je ein Mann gesehen hat, Eileen." Wie er ihren Namen aussprach. Alles in ihr zog sich dabei zusammen, doch sie behielt das Lächeln auf den Lippen, als wäre es eingemeißelt. Nur ihre Augen konnte es nicht erreichen. Diese verrieten dem aufmerksamen Betrachter ihre tiefe Abscheu gegen den Bruder des Königs.

Wenn ihr Krieg begann, würde er als erster fallen.

Magnus - Der Sohn des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt