Kapitel 3

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Enttäuschung war das schlimmste Gefühl der Welt, denn wenn man einen Menschen, den man liebt, enttäuscht, kommt es einem unendlich schrecklich vor. Die Enttäuschung, oder muss man schon von Traurigkeit sprechen, fraß sich in einen hinein und man wurde sie nie los.

Vielleicht war das der Grund, wieso ich in meinem Zimmer nicht weiter weinte, sondern mich versuchte abzulenken. Ich wollte nicht in das tiefe und dunkle Loch der Traurigkeit fallen, aus dem es kaum einen Weg hinausgab. Ich hatte den eisernen Schlüssel meiner Zimmertür mehrmals umgedreht, so dass mich niemand stören konnte.

Die kalte Luft wehte meine dunkelblonden Haare nach hinten, ich hatte mich mehrmals gedreht, damit der sanfte Wind sie mir nicht ins Gesicht blies. Mit meinem Zeichenblock saß ich nun auf unserem Dach. Über der Stadt, über den unzähligen Lichtern und über meinen Problemen.

Das schneeweiße Blatt war nicht vollständig weiß, ich hatte etwas darauf herumgemalt. Leider hatte ich keine Begabung für Kunst, Cassius war in dem Bereich deutlich begabter als wir alle. Es war keine richtige Kunst, zumindest sah ich keine in meiner Zeichnung. Ein schwarzer Kringel, den ich in Wut gezeichnet hatte, prangte auf dem Blatt. Ja, ich war wütend. Auf meinen Vater. Auf meine Mutter. Auf meinen Bruder, der mir auch nichts gesagt hatte. Auf meine beiden anderen Brüder, die sich nicht einmal die Mühe machten, hier aufzukreuzen. Und vor allem war ich wütend auf mich selbst. Darauf, dass ich so dumm und naiv gewesen war und gehofft hatte, es würde anders kommen.

Ich hatte, obwohl ich es geahnt hatte, dass es nicht so kommen würde, gehofft, dass meine Magie doch noch erscheinen würde. Leider hatte sie das nicht getan, aber dieser kleine Funke Hoffnung war heute Abend von meinem Vater zerstört worden. Es klang dramatisch, aber das gefiel mir irgendwie. Seit ich noch jung war, hatte ich gehofft, dieselbe Auszeichnung wie der Rest meiner Familie zu erhalten. Jedoch musste ich zugeben, ein wenig Magie beherrschte ich. Komplet nutzlos war ich also nicht. Es kostete mich schon immer eine gewaltige Kraft, Dinge zu beschwören, für Unsichtbarkeit reichte meine Magie nicht, obwohl selbst achtjährige Kinder diesen Zauber beherrschten.

Ich krizelte weiter auf meinem Blatt herum, einfach um zu sehen, wo mich meine Gedanken hinführten. Gab es denn keinen Weg, wie ich meine Brüder öfter sehen konnte? Sicherlich gab es einen. Es gab immer einen Weg, aber manchmal war es unfassbar schwer ihn zu finden.

Dann durchlief mich ein Schauer. Es gab einen Weg. Oh ja. Aber es war kein guter, ehrenwerter Weg. Allerdings konnte ich dadurch zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ein Plan begann sich in meinem Kopf zu schmieden, doch er war fürchterlich. Er gefiel mir. Denn wenn mein Plan funktionierte, würden meine Eltern die Tochter bekommen, die sie immer wollten und ich würde alle meine Brüder wiedersehen.

Mein Blick glitt nach oben, die Sterne funkelten diese Nacht wirklich schön. Vielleicht hatte sich vor hunderten von Jahren auch jemand genau an meinem Platz diese Sterne beobachtet. Ich musste bei dieser Vorstellung lächeln, beinahe vergaß ich den Grund, aus dem ich hier oben saß.
Meine Eltern waren nie die fürsorglichsten gewesen, aber sie hatten mich oft angelogen bezüglich meiner Magie und Stärke. Sie hatten versucht, mich zu überzeugen. Hundertprozentig hatte es nicht funktioniert, allerdings hätten sie es mir nach mehr als zehn Jahren falsche Hoffnungen das Ganze auch schonend beibringen können.

Eine kleine Dwelx flog an mir vorbei. Ihre bewundernswerte Schönheit war nachts noch beeindruckender als am helllichten Tag. Das hellblaue Vögelchen setzte sich etwa drei Meter von mir entfernt auf das schwarze Dach unseres alten viktorianischen Hauses. Dwelxe sangen ihre Lieder so hoch, dass wir Menschen sie nicht hören konnten. Nur Leipo-Adler konnten diese hohe Töne empfangen, dies hatte Clive auch zu seinen Gunsten genutzt, als er damals mit siebzehn Jahren seinen ersten Eirene-Orden erhalten hatte.

Mit der Verkündung, dass ich nur wenig Magie besaß, war auch meine Hoffnung auf den Eirene-Orden gestorben. Aber ich würde einen Weg finden, meinen Plan in Tat umzusetzen.
Ich riskierte damit meine komplette Zukunft. Aber was hatte ich schon zu verlieren? Meine Eltern waren sowieso mit Hale am zufriedensten.
Da würde es ihnen doch auch nichts ausmachen, wenn ihr scheinbar so unnützes Kind die Familie enttäuschte.

Es ging doch immer nur um den guten Ruf, was andere über unsere Familie dachten und um irgendwelche Auszeichnungen.
Nie verbrachten wir gemeinsame Zeit, nie sind wir in den Urlaub gefahren, obwohl wir uns das definitiv leisten konnten und nie hatten wir je gemeinsam gelacht. Nun, das war früher einmal. Bevor Clive nach seinem Orden ausgezogen war. Davor hatten wir schöne Abende gemeinsam verbracht. Ich vermisste diese Zeit so sehr.
Durch meinen Plan würde sich das Ganze ändern. Auch wenn es riskant war, würde ich es wagen. Das hatte ich mir fest vorgenommen.

Wenn man genau darüber nachdachte, hatte mich der Zwang meiner Eltern, perfekt zu sein zerstört. Aber wo lag Perfektion? Definitiv nicht dort, wie sie es mir beibrachten. Ich strich über die Glaskuppel neben mir. Dieses Haus fühlte sich nicht mehr wie ein Zuhause an. Hatte es sich je wie ein Zuhause angefühlt? Wohl kaum.
War es meine Schuld? War ich vielleicht das Problem unserer Familie? Der Grund, warum ich fast nie rausgehen durfte?

Puzzleteile fügten sich in meinem Kopf zu einem Bild zusammen. Wenn meine Eltern schon seit mehreren Jahren wussten, dass ich schwache Magie besaß, hatten sie mich sicherlich zu Hause gelassen, damit sie sich nicht schämen mussten.
Mussten sie sich für mich schämen? Ich schluckte tief, aber der Knoten, der sich in meinem Hals gebildet hatte, blieb hartnäckig bestehen. Wahrscheinlich schon. Ich war das schwarze Schaf der Familie. Ich war das Unkraut in einem Blumenfeld, der Kirschbaum in einem Meer von beeindruckenden Kastanienbäumen. Ich war der harte Kern in einer Kirsche.
Ich war das Problem.

Eine warme Träne der Enttäuschung lief langsam über meine Wange.
Problem.
An meinem Kinn angekommen, tropfte sie auf meine Hände.
Fehler.
Sofort machte sich eine Träne aus meinem rechten Auge auf den Weg nach unten.
Unpassend.
Ich passte einfach nicht in meine Familie. Sie waren alle so enttäuscht von mir. Die Dwelx begann mit ihren kleinen Flügeln zu flattern und und verschwand in der Nacht. Jetzt war auch sie fort. Und mit ihr meine gute Seite.



-1008 Wörter

𝚃𝚑𝚎 𝚂𝚘𝚗𝚐 𝚘𝚏 𝙼𝚘𝚘𝚗 𝚊𝚗𝚍 𝚂𝚞𝚗Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt