5 - leise Stimmen des Waldes

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Die wiederkehrende Melodie einer Mönchsgrasmücke war das erste, was Liva aufhorchen ließ. Sie stellte sich den kleinen Vogel mit dem grauen Federkleid und der schwarzen Mütze auf dem Kopf vor, wie er hoch oben in den Baumkronen der Koniferen sein Revier behauptete.

Die leichte Brise, die die feinen Härchen auf ihren nackten Unterarmen streifte, ließ das Nadeldach über ihr rascheln. Der moosige, feuchte Geruch passte überhaupt nicht zu dem schmuddeligen, ausladenden Café, in dem sie ihre Tage zu verbringen gezwungen war.

Ein knackendes Geräusch von einem brechenden Ästchen ließ ihre Augenlider aufgleiten und sie wurde von einem Sonnenstrahl geblendet, der durch das Nadeldach direkt in ihr Gesicht fiel. Wieder machte der kleine Vogel über ihr auf sich aufmerksam, der sich durch ihre Anwesenheit gestört fühlte.

Livas müder Körper lag auf dem moosbewachsenen Waldboden, umgeben von einem Veilchenmeer, dessen violette Köpfe sich der Sonne entgegenstreckten.

Wie war sie hier gelandet? Sie war doch gerade erst in dem dunklen Café gewesen.

Mit größter Mühe konnte sie sich an nichts anderes erinnern. Das Einzige, was sie wusste, war, dass ihr ganzer Körper schmerzte. Jeder Zentimeter ihrer Haut brannte wie die Hölle, als hätten tausende kleine Flammen um ihren Körper gezüngelt. Sie strich sich lose Haarsträhnen aus dem Gesicht und hatte Mühe, sich aufzusetzen.

„Ich dachte, du würdest nie wieder zu Bewusstsein kommen", ertönte eine heißere Stimme neben ihr, und sie erblickte den Mann, der neben ihr Platz genommen hatte und an einen Baumstamm gelehnt war. Er hielt einen Dolch in der Hand, dessen scharfe Klinge das Sonnenlicht reflektierte, und er drehte ihn spielerisch zwischen seinen Fingern hin und her. Seine Worte jagten Liva einen Schreck ein und ihr Instinkt veranlasste sie, sofort etwas Abstand zwischen die beiden zu bringen. Schließlich war der Mann neben ihr ihr völlig fremd.

„Scheiße, hast du mich erschreckt. Wer bist du?", kreischte Liva und richtete sich auf. Die hastige Bewegung verursachte ein Brennen in ihrem Oberarm, aber darüber konnte sie sich im Moment keine Gedanken machen. Der Mann vor ihr hob den Blick und erlaubte es ihr, ihn anzuschauen. Wahrscheinlich würde sie die leuchtend gelben Iriden seiner Augen unter tausenden Fremden wiederkennen, denn sie waren das Einzige, was ihr Gedächtnis aus ihren letzten Erinnerungen freigegeben hatte.

„Wer bist du?!", zischte sie mit zusammengepressten Zähnen erneut.

„Mein Name ist Torin", verkündete der Mann und schob die Kapuze von seinem Kopf. Dabei kam längeres schwarzes Haar zum Vorschein, das ihm in die Stirn stand, eine markante Kieferpartie und eine frisch aussehende Schnittwunde, die seinen Wangenknochen zierte. Der Mann erhob sich und ließ den Dolch mit einer einzigen fließenden Bewegung in seine Hosentasche verschwinden.

„Wo sind wir?", fauchte das Mädchen misstrauisch und ließ ihr Gegenüber keine Sekunde aus den Augen.

„In einem Wald, gefällt es dir hier nicht?", bemerkte er ironisch und näherte sich dem Mädchen. Sie hingegen wich mit jedem seiner Schritte zurück und schaffte es, den Abstand zwischen ihnen zu wahren.

„Warum sind wir hier?", verlangte sie zu wissen, während das Knacken der Äste unter dem Gewicht der beiden Körper die Stille des Waldes erfüllte.

„Weil ich dich hierhergebracht habe."

„Warum?"

Ein Baumstamm in ihren Rücken ermöglichte es dem Mann aufzuschließen. Er baute sich vor ihr auf und betrachtete sie eingehend.

„Weil du hier vorerst sicher bist", verriet er ihr, aber im Moment war sie sich dessen nicht sicher, denn seine drohende Haltung ihr gegenüber machte sie misstrauisch.

Liva - das Mädchen, das in Flammen stehtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt