„Ich bin ein Drache, Liva", offenbarte er ihr vorsichtig, "aber ich kann dir nur meine menschliche Gestalt zeigen."
„Deine menschliche Gestalt?", flüsterte das Mädchen und blickte über seine Spannweite hinweg.
„Hast du Angst vor mir?", wisperte er, in der Furcht, eine Antwort zu bekommen, die er nicht zu hören vermochte.
Liva schüttelte wieder bedächtig den Kopf und versank in Torins leuchtend orangefarbenen Iriden, die sie sorgenvoll musterten. "Nein, ich habe keine Angst vor dir", hauchte sie und sie meinte es ernst. Das Gegenteil war der Fall. Sie fühlte sich in der Gegenwart des Mannes wohl und sicher. Ein Gefühl, dass sie nicht kannte.
„Gut", stellte Torin fest.
In der Angst einen Fehler zu begehen, wandte er sich von ihr ab. Er musste dringend etwas Abstand zwischen sich und das Mädchen bringen. Seine Flügel begannen sich zu bewegen und mit einem federnden Schritt hob sein Körper vom Boden ab und er erhob sich in die Luft. Liva beobachtete das Spektakel mit großem Interesse, auch wenn sie sich nicht erklären konnte, wie das möglich war. Der geflügelte Mann erhob sich und flog über sie hinweg, bis er hinter den Baumkronen nicht mehr zu sehen war. Mit einem zischenden Geräusch kehrte er in ihr Blickfeld zurück und sauste über sie hinweg. Dann herrschte Stille, und Liva konnte nichts mehr von ihrem Begleiter sehen, der sich als Fantasiewesen entpuppte und derjenige war, der in der Nacht in ihrem Zimmer gewesen war.
Nach einer Weile wurde Liva unruhig, denn Torin tauchte nicht wieder auf. Verdammt, hatte er jetzt seine Chance ergriffen, sie zurückzulassen? Nein, das hätte er in der Nacht tun können, während sie schlief. Warum hatte er darauf bestanden, dass sie nicht verschwinden sollte, und sie dann allein zurückgelassen? Das alles machte keinen Sinn.
Sie stapfte wütend durch das kalte Wasser und entledigte sich ihrer nassen Schuhe. Glücklicherweise lugte die Sonne bereits über den Horizont, und obwohl es noch früh am Morgen war, hatte sie genug Kraft, um ihre erfrorenen Glieder zu wärmen. Liva öffnete den Reißverschluss ihrer Hose, die fast bis auf die Haut durchnässt war, um sie besser trocknen zu lassen, dann zog sie ihr Oberteil aus, wobei eine Reihe von Narben und Wunden zum Vorschein kamen. Die Wunde an ihrem Oberarm, die sorgfältig mit einem sauberen Stoff verbunden worden war, kannte sie noch nicht. Sie stieg erneut in das kühle Wasser, um die getrockneten Blutspuren von ihrem Arm zu entfernen.
Dann setzte sie sich an den Rand des Ufers, wo sie eine Weile lang die Vögel dabei beobachtete, wie sie immer wieder kleine Insekten im Flug auffingen und zu ihren Nestern brachten. Wie schnell und geschickt sie sich durch die Lüfte bewegten. Dabei kam ihr wieder der Anblick des großen Mannes in den Sinn, der sich mit den großen Schwingen erhob und durch die Lüfte glitt. Wie konnte das möglich sein. Waren sie etwa in eine andere Welt geraten in der das alles möglich war? Oder befand sie sich etwa noch in ihrer normal geglaubten Welt? Liva vermochte es nicht zu sagen. Doch aus ihrem verschlossenen Begleiter würde sie wohl nicht herausbekommen, falls er jemals wieder auftauchen würde.
Je mehr Zeit verging, desto geringer wurde die Hoffnung, Torin wiederzusehen. Als die Sonne schon eine beträchtliche Strecke zurückgelegt hatte und die Bachstelzen sich ein wenig beruhigt hatten, zog Liva ihre bereits getrockneten Kleider wieder an.
„Haben sie dir das angetan?", ertönte eine vertraute Stimme hinter ihr, die Liva aufschrecken ließ. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Torin plötzlich wieder hinter ihr stand. Im Nacken spürte sie seine sanfte Berührung, als er die Haare zur Seite schob, um die Kratzspuren auf ihrem Schulterblatt zu betrachten. Seine Berührung hinterließ ein Kribbeln auf ihrer Haut, das sie alles andere als unangenehm fand. Liva nickte und glaubte zu wissen, dass er von den dunklen Gestalten aus ihren Träumen sprach.
„Ich habe versucht, dich vor ihnen zu schützen."
„Mich vor ihnen beschützen?" Liva wandte sich um und sah Torin an, dessen Gestalt wieder völlig menschlich aussah. Sein Haar stand unordentlich in alle Richtungen ab, als wäre es im Flug getrocknet worden. Sein Gesicht war leicht verschattet, als ob er sich in der Zwischenzeit schmutzig gemacht hätte. Die katzenartigen Augen sahen wieder normal aus, und die Färbung war nicht länger ein intensives Orange. Als sie in seine Augen blickte, die vor Mitleid schimmerten, stieg eine Spur von Wut in ihr auf, schließlich hatte er sie hier für eine Ewigkeit allein gelassen
„Wie kannst du mich vor etwas beschützen, das in meinen Träumen passiert?", fuhr sie ihn an. Sie wandte sich wieder von ihm ab, und zog sich den Stoff ihrer Jacke über die Narben an ihrem Rücken.
„Das waren keine Träume, Liva", informierte Torin sie mit leiser Stimme. Er legte vorsichtig seine langen Finger um ihren Unterarm und zwang sie dadurch, sich wieder umzudrehen und ihn anzuschauen.
Das tapfere Mädchen verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte er das wissen? Wie konnte er behaupten, dass es keine Träume waren? Obwohl es offensichtlich war und Liva insgeheim schon lange wusste, dass es sich nicht um Träume handelte - wie hätten ihr diese Monster sonst diese schmerzhaften Verletzungen zufügen können - konnte sie ihm einfach nicht glauben.
„Wie meinst du das?"
„Diese Träume waren real. Diese Gestalten waren real. Sie waren auf der Suche nach dir und manchmal hast du ihnen erlaubt, dich zu finden, als ob ihr euch magisch zueinander hingezogen fühlt." Er streifte den Stoff an ihren Unterarmen nach oben und strich mit den Daumen über die verblassten länglichen Narben die sich auf ihrer Haut abzeichneten.
„Wenn sie dein Blut richten, dann können sie dich finden", erklärte er dem Mädchen, das seine Berührungen aufmerksam verfolgte. „Es schien, als wolltest du, dass sie dich finden."
„Woher weißt du das?" wollte Liva wissen und blickte ihn wieder in die Augen. Er stand plötzlich so nahe vor ihr. Sie konnte seinen warmen Atem auf ihrer Haut fühlen. Ihr Herz begann augenblicklich schneller zuschlagen. Als hätte ihr Gegenüber es bemerkt, ließ er abrupt von ihr ab und trat einen Schritt zurück.
„Weil ich dich begleitet habe", erklärte er. Sein Ton war mit einem Mal etwas härter.
„Ich erinnere mich nicht", offenbarte sie ihm.
„Ich weiß."
„Ich dachte, es wären Träume, kann ich mich deshalb nicht erinnern, wie ich dorthin gekommen bin?"
„Das mag sein, ich weiß es nicht." Torin fragte sich, wie viel er noch verraten konnte.
„Aus irgendeinem Grund wollen sie dich, sie brauchen dich. Aber dennoch verletzten sie dich." Torin deutete auf die unzähligen Narben auf ihrem Körper.
„Ich habe jede Nacht versucht, dich vor ihnen zu schützen, aber leider ist es mir nicht immer gelungen."
„Jede Nacht?"
„Ich habe dich von ihnen gerettet, als sie dich angegriffen haben. Auch wenn du dich gegen sie behaupten konntest. Verdammt, dein Feuer ist gigantisch. Wahrscheinlich bin ich aber der Einzige, den du damit nicht verletzen kannst."
„Mein Feuer? Was meinst du damit?"
„Wenn ich die Flammen nicht mit meinen Flügeln eingedämmt hätte, würde die Stadt nun wohl in Trümmern liegen."
„Ich weiß nicht, was du meinst, Torin", gestand sie frustriert. Torin legte seine Hände auf ihre Wangen und sah sie verzweifelt an. Endlich durfte er sie berühren.
„Kannst du dich an nichts erinnern?" Seine hellen Augen starrten sie eindringlich an.
Liva schüttelte den Kopf und er ließ seine Hände sinken.
Na gut, er gab auf.
„Pack deine Sachen zusammen, wir gehen weiter", wies er das Mädchen an und ließ sie stehen.
***
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Liva - das Mädchen, das in Flammen steht
FantasyEin lauter Schrei, eine Mischung aus Angst und Frustration, entrang sich dem Mädchen, das auf einer kleinen Lichtung im Wald stand. Die eisige Brise, die ihren nackten Körper streichelte, ließ ihre Knie zittern. Sie erblickte die unheimliche Kreatur...