Prolog

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Ein tiefes Gähnen drang aus Darians Mund, während er sich an der kalten Steinwand in der kaiserlichen Bibliothek anlehnte. Die schwachen Lampen an der Wand erzeugten ein flackerndes Licht, das die langen Schatten der Bücherregale über die verstaubten Schriftrollen zeichnete. Seit Stunden hatte er nichts zu tun, außer die Tür zum abgesperrten Bereich zu bewachen. Der mangelnde Schlaf und die Langeweile zerrten an seinem Körper. Mit aller Kraft kämpfte er dagegen an, seine schweren Augenlider zu schließen, die sich anfühlten, als wären sie von unsichtbaren Bleigewichten beschwert. Die Nacht war bereits weit fortgeschritten, und Er wusste, dass er wieder viel zu spät arbeitete. Doch er hatte keine Wahl. Für sich, seine Frau Clara und das ungeborene Kind, das sie erwarteten, musste er jede zusätzliche Schicht nehmen, die er bekommen konnte.

Er hatte die Hoffnung, bald aus den äußeren Ringen der kaiserlichen Hauptstadt Magnatriel wegzuziehen. Derzeit lebte er nur wenige Blocks vom äußersten Ring entfernt, dort, wo die Verbrecher und Ausgestoßenen lebten. Der Anblick der prächtigen Gebäude der Adeligen und Händler im Zentrum der Stadt schien für ihn unendlich weit entfernt. Ein Traum, den er sich mit Fleiß und Entbehrungen erfüllen wollte.

Darian streckte sich, als sein Arbeitskollege Bernard von seinem Rundgang um die Ecke kam.

„Wenn du dich hier schon so streckst, hättest du auch den Rundgang machen können." witzelte Bernard als er sich an die andere Seite der schweren Eichentür stellte. Bernard war ein etwas älterer Wachmann mit grauem Haar und einen Schnurbart, um den ihn die meisten Männer beneideten. Und obwohl er keine beeindruckende Statur hatte, strahlte er eine ruhige Autorität aus.

Darian arbeitete gerne mit Bernard zusammen. Er war ein angenehmer Gesprächspartner und nahm die Dinge nicht so streng. Als er Darian während seiner ersten Nachtschicht beim Schlafen erwischt hatte, hatte er ihm lediglich Rauch von seiner Zigarette ins Gesicht gepustet, um ihn zu wecken. Und auch wenn Darian sich schönere Wege vorstellen könnte aufzuwachen, war ihm das tausendmal lieber als bei seinem Vorgesetzten angeschwärzt zu werden.

"Ich wollte dir die Ehre des Rundgangs überlassen, Bernard. Deine alten Knochen brauchen doch Bewegung." Erwiderte Darian mit einem müden Lächeln.

Bernard lachte leise und nahm einen Zug von seiner Zigarette. "Wahrscheinlich hast du recht. Sonst haben wir hier ja auch nichts zu tun, ist ja nicht so als würde hier jemals jemand einbrechen. Außer vielleicht von dummen Jugendlichen wegen irgendeiner idiotischen Mutprobe."

Darian wusste, dass sein älterer Kollege recht hatte. Es würde keinen Sinn ergeben hier versuchen einzubrechen. Die Bücher im öffentlichen Bereich waren sowieso für jeden verfügbar. Zumindest für jeden der wenigstens etwas Status hatte. Und die, die diesen nicht hatten, könnten sowieso nichts mit den Büchern anfangen, da sie sie gar nicht erst lesen konnten.

Und abgesehen davon, dass es hier nichts gab, für das es sich zu einbrechen lohnte, schien es auch noch absolut unmöglich. Die kaiserliche Bibliothek war eine der am besten bewachten Einrichtungen der Stadt. Die dicken Steinmauern waren unüberwindbar und um durch die Tore zu gelangen, brauchte man die Schlüsselsätze von fünf verschiedenen Wachmännern.

Dennoch konnte Darian nicht umhin, einen kurzen Blick auf die massive Tür hinter sich zu werfen. Die schimmernden Ornamente auf dem Holz und die komplexen Symbole, die in die Oberfläche eingraviert waren, vermittelten den Eindruck, dass hinter dieser Tür etwas von unschätzbarem Wert lag. War es möglich, dass jemand so verzweifelt oder waghalsig war, es zu versuchen?

Bernard bemerkte das Interesse in Darians Blick und legte die Zigarette beiseite. „Glaub mir, zu versuchen da rein zukommen ist noch törichter als bis hierhin. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie ist die Tür verflucht."

Labyrinth of Shadows:  Treue und VerratWo Geschichten leben. Entdecke jetzt