Prolog

22 2 1
                                    

Farah

Der Basar von Antakya

1944

Vielleicht werde ich diesen Ort irgendwann wieder betreten können, wenn meine Seele mit dem Schmerz umgehen kann, welchen er in mir verursacht.



13 Jahre zuvor

Der Duft von exotischen Gewürzen stieg mir in die Nase, während ich voller Faszination auf die bunten Teppiche deutete, die entlang der Wände nach unten hingen. Die Sonne brannte am Himmel über dem überfüllten Basar. Voller Neugier nahm ich jeden Moment, den mir dieser Platz bot, in mir auf.

Es war das erste Mal, dass meine Füße mit dem Boden der Menschen in Berührung kamen. Diese Welt war mir nur durch die Erzählungen meines Großvaters bekannt. Antakya lag heute in der Provinz Hatay und war der Ort, aus dem mein Großvater Mustafa Kemik stammte, bevor er durch den Magierkrieg aus dieser Welt gerissen wurde. Er war einst ein Teil dieser Erde, ehe er infolge der Konflikte sein neues Zuhause im Universum der Magier fand. Und deshalb war ein Bruchstück meines Ursprungs hier verankert.

Ein seltsames Gefühl von Wärme durchfuhr meinen kleinen Körper, während mein Vater und ich Hand in Hand durch die Menge schlenderten. Es war, als würde mich Antakya in eine herzliche Umarmung ziehen. Keine Worte konnten diese einzigartige Empfindung beschreiben.

»Bleib in meiner Nähe und fass nichts einfach an, Farah«, ermahnte mich mein Vater ruhig, was ich mit einem heftigen Nicken beantwortete. Dann glitt mein Blick zu den lebhaften Stimmen der Händler, die aus allen Richtungen ertönten.

Mein Vater hatte einen Auftrag zu erledigen, daher waren wir nicht zum Vergnügen hier. Ich hatte die Tage vor seiner Abreise so lange darum gebettelt, mitkommen zu dürfen, dass er es nicht mehr ausgehalten hatte. Wenn mein Vater sagte, dass er kurz etwas zu tun habe, dauerte es oft länger als versprochen. Denn es bedeutete, dass er wieder arbeiten musste. In unserem Leben dauerte nie etwas nur eine kurze Zeit. Alles, was in meiner Familie geschah, fühlte sich endlos an. Dieses »kurz« konnte auch »ewig« bedeuten. Wie bei meiner Mutter, die nur kurz das Haus verlassen musste und in der Ewigkeit verschwand, weil man ihr das Leben nahm. Diesen Preis musste man zahlen, wenn man sich für die Berufung des Knochenmeisters entschied. Die Arbeit barg viele Gefahren, wenn man sich in die Angelegenheiten abseits des Lichts einmischte. Legte man sich jedoch mit den falschen Verbrechern an, sorgten diese dafür, dass die eigenen Überreste unter der Erde aufzufinden waren. So erging es meiner Mutter.

Ich wollte unbedingt verhindern, dass mein Vater auch in der Ewigkeit verschwand. Ein Plan, der zum Scheitern verurteilt war.

»Selamün Aleyküm«, hörte ich einen älteren Mann in traditioneller Kleidung sagen.

»Aleyküm Selam«, erwiderte mein Vater breit lächelnd und widmete sich ihm. Er ließ meine Hand los, um einen Brief aus seiner Hosentasche zu ziehen. Schließlich gab er mir die Anweisung, ihm nicht von der Seite zu weichen, was mich dazu verleitete, mich still dichter an ihn zu drücken. Ich wollte nicht riskieren, in dem Rummel verloren zu gehen. Auch wenn es mich in den Fingern juckte, mich durch die Menge treiben zu lassen und die Gassen zu erforschen. Mein Vater faltete das Papier auseinander und überreichte es dem Mann. Dann begannen sie sich auf Türkisch zu unterhalten, was außerhalb meiner Sprachkenntnisse lag. Ich bemerkte nur den ernsten Gesichtsausdruck meines Vaters, während die Augen des Mannes über das Papier flogen.

»Farah«, erreichte mich eine Stimme. Ich wandte mich meinem Vater zu, auf der Suche nach seinem Blick. Überzeugt davon, dass ihm soeben mein Name über die Lippen gefahren war. Doch als dieser erneut erklang, hatte ich die Gewissheit, dass er ihn nicht ausgesprochen hatte.

The Masters of Bones - Das Flüstern in deiner BerührungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt