Jonas hastete durch die belebten Straßen Hamburgs. Nachdem er die Nachricht auf sein Handy bekommen hat, ist er so schnell wie möglich aus dem Haus gesprintet. Jedoch wurde er von seiner schon sehr alten und dem Tode nahen Nachbarin aufgehalten, um sich wieder bei ihm zu beschweren, dass seine Waschmaschine so laut sei. Ich bekomme wegen diesem Ding noch einen Herzinfarkt, hatte sie rum lamentiert. Nachdem er sie mit einem flapsigen, ja ja, ich werde mich schon drum kümmern abgewimmelt hatte, war er auch schon vor der Haustür.
Es war ein kalter, aber klarer Morgen. Sein Atem formte kleine Wölkchen, die Vögel zwitscherten in den Bäumen, die vereisten Straßen glitzerten in der Morgensonne und der mit Schnee bedeckte Gehsteig knirschte unter seinen Schritten. Die Menschen um ihn herum eilten fast wie mit einem Tunnelblick an Jonas vorbei. Egal ob Geschäftsmann, Putzkraft, Taxifahrer oder Schüler, alle gingen im zügigen Schritt voran. Zum Glück chille ich heute Abend mit meinen Freunden in Bayern in unserer Ferienwohnung, dachte Jonas, während er die Straßen entlang rannte.
Am ZOB angekommen, kam ihm schon Lara mit einem besorgten Blick entgegen. Oh mein Gott, gut, dass du es rechtzeitig geschafft hast, sagte sie voller Aufregung. Klaro, kein Problem, aber wieso habt ihr mich jetzt schon zum Busbahnhof zitiert, entgegnete Jonas. Du kleiner Trottel hast die App wohl nicht. Die Busfahrt wurde um eine Stunde vorverlegt wegen dem Sturm, der heute noch aufziehen soll, lachte Lara. Achso, sagte Jonas daraufhin leicht genervt. Er konnte es gar nicht ab, wenn jemand mit ihm sprach, als wäre er noch ein Kleinkind. Lara bemerkte Jonas Unmut und piekste ihn freundschaftlich in die Seite. Komm schon, dir ist doch klar, dass ich das nur als Witz gemeint habe, sagte sie mit einer künstlich verstellten Babystimme. Komm, fuhr sie fort, da hinten warten die anderen.
Zusammen gingen die beiden durch den heruntergekommenen Busbahnhof. Es roch nach Urin und Kotze und vor einem Kiosk campierten einige Obdachlose. Vor ihnen lagen mit einer komisch aussehenden Flüssigkeit halb aufgefüllte Spritzen. Selbst die anderen Passagiere, die auf die verschiedenen Busse warteten, wirkten irgendwie kaputt. Als würde der ZOB mit seiner veralteten und verwahrlosten Art auf die Menschen Einfluss nehmen und sie ebenfalls verwahrlost wirken lassen. Die Neonlampen der vielen Schnapsstände ließen den ganzen Ort wie aus einer Zukunftsdystopie aussehen. Dieser Busbahnhof war wirklich ein Ort des Scheiterns.
Als die beiden gerade durch eine stinkende Pfütze voller Urin stiegen, ertönte neben ihnen eine Raucherstimme. Ey, habt ihr mal ein bisschen Kleingeld oder Pfand, hörten sie jemanden sagen. Ein stinkender alter Mann trat aus dem Schatten hervor und stand nun vor den beiden. Sein zahnloses Lächeln wirkte irgendwie erzwungen und seine Kleidung war voller Löcher und sah aus, als hätte er sie seit drei Jahren nicht mehr gewaschen. Ein Fick mit der kleinen dort würde auch genügen, sagte er verschmitzt und deutete auf Lara. Jonas konnte seinen Ohren nicht trauen. Lara hingegen fing panisch an zu weinen und versteckte sich hinter seinem Rücken. Todesängste schossen durch Laras Kopf: Was mache ich nur, wenn der Typ Jonas niederstreckt und mich hinter die nächste Säule zieht? Jonas bemerkte Laras Anspannung, er hielt es selbst kaum mehr aus. Voller Wut packte Jonas den Obdachlosen, drückte ihn gegen eine Wand und schlug ihn so doll ins Gesicht, dass seine Wangenknochen mit einem lauten Knacks nachgaben.
Jonas, Lara, alles okay bei euch, fragte Ali, der mit Jenny gerade angelaufen kam. Danke, ohne dich würde ich jetzt vergewaltigt in einer Ecke hinterm ZOB liegen, schluchzte Lara. Jonas nahm sie in den Arm, er konnte ihren rasenden Herzschlag durch die dicke Winterjacke spüren. Kommt Leute, lasst jetzt schnell schauen, von wo unser Bus abfährt, sagte Jenny. Stimmt, das ist eine gute Idee, erwiderte Ali. Hat jeder sein Ticket, fragte er in die Runde. Die restlichen drei wühlten in ihren Taschen herum. Ah, da ist ja meine Karte, sagte Jonas. Ich habe Sitz 88b. Ali lachte laut: Typisch Jonas, du bist so oldschool wie mein Opa in Afghanistan. Ich habe mein Ticket selbstverständlich auf meinem Handy und dort steht ich habe Sitz 88a, sagte er noch. Also, seit Corona und den ganzen Lockdowns habe ich auch nichts mehr ausgedruckt, prustete es aus Jenny heraus. Ich habe Sitz 87b und wie ich sehen kann, hat Lara 87a, fügte sie hinzu.
Die vier gingen zu ihrer Plattform. Lara, die von der vorherigen Situation noch immer durch den Wind war, sagte: Ich bin so froh, wenn wir erstmal im schönen warmen Bus sitzen. Das bin ich auch, antwortete Ali daraufhin. Ich kann mir nicht länger hier in der Kälte den Arsch abfrieren. Jonas lachte: Da wo wir hinfahren, wird es wahrscheinlich noch viel kälter werden, du Depp. Ja, aber da werden wir dann ja gemütlich in unserer Ferienwohnung mit einer Flasche Wein sitzen, antwortete Ali daraufhin und rollte mit den Augen. Uhh, vielleicht können Lara und ich uns einen heißen bayerischen Typen angeln, mit denen wir dann in die Kiste springen, sagte Jenny und zog ihren Wintermantel provokant hoch, dass man ihren freien Bauch sehen konnte.
Lara wollte gerade protestieren, da blitzten auch schon zwei Scheinwerfer auf. Ein alter rostiger grauer Bus kam langsam herangefahren. Der Name des Reiseveranstalters war kaum noch zu erkennen, da die Buchstaben fast allesamt weggerostet sind. Hinter dem Bus bildete sich eine graue Wolke an stinkenden Abgasen und die Felgen, die einst mal in einem hellen Gold gestrahlt haben, sahen jetzt nur noch alt und braun aus. Die großen Seitenspiegel waren auf beiden Seiten zersprungen. Jonas fragte sich, wie der Busfahrer überhaupt damit etwas erkennen wollte. Mit einem lauten Quietschen kam der Bus vor der Gruppe und den anderen Passagieren zum Stehen. Die Türen des Busses öffneten sich und ein bierbäuchiger Mann im mittleren Alter, einem Schnauzer und Halbglatze schaute streng zu den Passagieren und sagte: Hereinspaziert hier ist ihre Fahrt nach Bayern.
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Dunkle Weihnacht
Teen Fiction"Die Weihnachtszeit ist eine Maskerade; die wahre Natur des Menschen enthüllt sich erst, wenn die festlichen Lichter erlöschen und die Dunkelheit ihre Geheimnisse preisgibt."