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Als ich Sarah das erste Mal sah, war es Oktober. Sie trug ein kariertes Hemd und ihre Haare waren von dem strömenden Regen so durchnässt, dass ich ihre Farbe kaum erkennen konnte. Ich wusste damals nicht, dass ich sie noch einmal sehen würde, oft sogar, und dass ihre Haarfarbe die schönste war, die ich jemals gesehen hatte.

Es war ein trüber Donnerstagnachmittag, und die grauen Wolken am Himmel ließen keine freie Lücke für mögliche Sonnenstrahlen übrig. Wir hatten beide den Bus verpasst und standen nun klatschnass an der Bushaltestelle. Natürlich war niemand in Macy auf die Idee gekommen, überdachte Bushaltestellen zu bauen und nicht nur ein großes Schild mit einem „H" neben einen Baum zu stellen.

„Meine Hausaufgaben kann ich jetzt vergessen, in meinem Rucksack wird wohl alles nass sein", sagte eine zarte Stimme. Ich schob meine Kapuze ein Stück zur Seite und bemerkte das Mädchen, das neben mir stand und versuchte, ihren Rucksack vor dem Regen zu bewahren. Es war schwer, überhaupt irgendetwas zu sehen, weil der Regen mir ständig auf die Wimpern prasselte und das aufkommende Gewitter den Himmel völlig verdunkelt hatte. Es war zwar erst 14:06 Uhr, aber es sah so aus, als wäre es bereits abends.

Trotz der Dunkelheit fiel sie mir sofort auf. Ihre nassen, schulterlangen Haare und die Sommersprossen auf ihrer Nase hypnotisierten mich, und ich schaffte es nicht rechtzeitig wegzusehen. Sie ertappte mich, schien jedoch nicht von meinem Starren irritiert zu sein. „Wer war es bei dir?", fragte sie stattdessen und überraschte mich mit ihren Worten. „Huh?", antwortete ich wie eine Idiotin. „Na, welcher Lehrer hat dich nicht rechtzeitig aus dem Unterricht entlassen und ist der Grund, warum du jetzt hier stehst?", formulierte sie ihre Frage präziser. Verlegen lachte ich. „Ms. Montgomery." Sie nickte. „Bei mir war es Kunkle, der Vollidiot. Ich hasse seinen Matheunterricht, und Mundgeruch hat er auch noch." Ich ließ ein kurzes, aber herzliches Lachen los, und sie schaute mich so intensiv an, als hätte niemand zuvor je über ihre Witze gelacht.

Komisch, dachte ich. Wir waren auf derselben Schule, und ich hatte sie noch nie zuvor gesehen, was ziemlich unnormal auf einer so kleinen Schule wie unserer war. Niemals hätte ich sie übersehen.

„Ich bin übrigens Sarah Kalosky", stellte sie sich mir vor und streckte mir ihre Hand entgegen. Ihren Namen hatte ich auch noch nie gehört. „Allie", antwortete ich und schüttelte ihre Hand vorsichtig. Mir fielen ihre vielen Ringe auf; fast an jedem Finger trug sie welche, selbst zwei am Daumen. Ich war neugierig und zu schüchtern, um mit ihr zu sprechen zugleich und trotzdem fasste ich meinen Mut zusammen, weil ich wusste, dass ich es bereuen würde, nicht weiter mit ihr gesprochen zu haben, mich nicht an ihre Stimme erinnern zu können. „Bist du neu? Ich habe dich noch nie auf dieser Schule gesehen", fragte ich. Sarah schüttelte den Kopf. „Ich bin eine Stufe über dir, Süße", antwortete sie. Ich dachte intensiv darüber nach, ob ihr Gesicht mir nicht doch vielleicht bekannt vorkam, doch für mich war sie eine völlig Fremde. „Hast du mich schon mal gesehen?", fragte ich neugierig. Nervös schluckte ich, bevor Sarah mir meine Frage überhaupt beantworten konnte. Langsam nickte sie und auf ihren rosa Lippen bildete sich ein leichtes Schmunzeln. Verlegen schaute ich weg und tat so, als würde ich nach dem nächsten Bus gucken.

Hatte sie mich nur gesehen, oder war ich ihr aufgefallen? Bedeutete das Schmunzeln auf ihren Lippen etwas, oder bildete ich mir zu viel darauf ein? „Du hörst viel Musik, oder?", fragte sie mich und brachte mich dazu, mich wieder zu ihr zu drehen. „Ich habe dich bis jetzt immer nur mit deinen Kabelkopfhörern gesehen", erklärte sie. Ich nickte. „Ich bleibe ihnen sehr treu, auch wenn nur noch eine Seite funktioniert." Nun war Sarah diejenige, die lachte. Mir fiel der silberne Ring an ihrem flatternden Nasenflügel auf. „Was hörst du denn immer?", wollte sie wissen. Ich hatte mich schon oft für meinen Musikgeschmack geschämt und ihn mit der Antwort „Eigentlich höre ich alles" verleugnet, doch sie hatte etwas an sich, das mir verriet, dass sie sich nicht über mich lustig machen würde. Vielleicht war es der Radiohead-Button an ihrem Rucksack, der mich beruhigte. „Nirvana ist meine Lieblingsband", antwortete ich leise und sah ihre Augen funkeln. „Du verarschst mich doch! Nirvana ist meine absolute Lieblingsband, mein ganzes Zimmer ist voll mit Postern von ihnen." Ich hatte ihre Antwort nicht erwartet, doch freute mich innerlich tierisch über sie. Vielleicht fand ich an dieser öden Schule endlich eine wahre Freundin, die nicht nur mit mir sprach, wenn gerade niemand anderes da war. „Was ist dein Lieblingslied?", musste ich sofort wissen und spürte in mir ein Kribbeln vor Freude. „Come as You Are", erwiderte sie. „Nevermind! Gute Auswahl", freute ich mich. „Meins wird für immer Heart-Shaped Box bleiben."

„I've been locked inside your heart-shaped box for weeks...", murmelte Sarah den Songtext vor sich hin. Ich konnte nicht fassen, dass ich ein Mädchen getroffen hatte, das meine Lieblingsband hörte und nicht dachte, dass Nirvana eine T-Shirt-Marke sei. Nicht vielen sagte der Name „Kurt Cobain" noch etwas, zumindest nicht den Leuten aus meinen Kursen.

„Ich mag dich, Allie", sprach Sarah die Worte aus, die meinen Mund noch nicht verlassen konnten. Nervös schaute ich in ihre grünen Augen und dann wieder in Richtung Boden. Ich ließ ihre Worte unbeantwortet; aus irgendeinem Grund war ich wie gelähmt und konnte nicht mal ein einfaches „Danke" aussprechen. Es hatte noch nicht geblitzt, und doch hatte es mich getroffen. Mein Blick verweilte auf der nassen Straße und den vorbeifahrenden Autos. Ich tat zwar so, als würde ich ungeduldig auf den Bus warten, aber in Wahrheit wünschte ich mir, dass Sarah noch etwas sagen würde, doch sie blieb genauso still wie ich.

Wir mussten nicht länger warten, bis der Bus vor uns erschien und wir ihn völlig durchnässt betraten. Der Busfahrer gab uns einen bösen Blick, als würde es zwischen den verklebten und dreckigen Sitzen etwas ausmachen, wenn auch noch zwei nasse dazukamen. Sarah und ich gingen nach ganz hinten und setzten uns nebeneinander. Sie am Fenster und ich außen. Mit ihrem Finger fuhr sie die Strecke des Regentropfens nach, der das Fenster runterlief. Jetzt, wo ich so nah an ihr saß, bemerkte ich, dass ihre nassen Haare nach Shampoo rochen. Der Duft von synthetischen Rosen umhüllte mich. Noch nie zuvor hatte ich mir gewünscht, dass die Busstrecke länger wäre oder dass eine nicht umschaltende Ampel mich davon abhalten würde, früher zu Hause anzukommen. Das erste Mal seufzte ich, als der Bus meine Haltestelle erreichte.

Langsam stand ich auf und lächelte Sarah zu. „Bis dann", sagte ich, woraufhin sie mit einem Winken antwortete. Würden wir uns wirklich wiedersehen? fragte ich mich sofort, als ich ausstieg. Ich schaute sie ein letztes Mal an, bevor der Bus an mir vorbeifuhr und wir wieder getrennt waren. Ich wusste, dass ich den restlichen Tag über sie nachdenken würde. Was hatte dieses Mädchen mir bloß angetan?

Zuhause angekommen, klingelte ich an unserer Haustür und wurde schockiert von meiner Mutter begrüßt, die sich womöglich mehr Sorgen um den Dreck an meiner Hose machte als um die mögliche Erkältung, die ich mir einfangen könnte. „Hast du den Bus schon wieder verpasst? Meine Güte, Allie, du hast doch so lange Beine, warum gehst du nicht ein bisschen schneller?", regte sie sich auf. „Die Sachen kommen sofort in die Wäsche!" Normalerweise hätte ich mich über sie aufgeregt und ihr frech widersprochen, doch an diesem Nachmittag breitete sich eine Wärme in mir aus, die ich immer spüren würde, wenn ich an Sarah dachte.

Nach meinem heißen Bad legte ich mich in meinem sauberen Pyjama in mein Bett und starrte nachdenklich die Decke an. „Ich mag dich auch", sprach ich die Worte aus, die zum richtigen Zeitpunkt nicht aus mir herausgekommen waren. Ich dachte noch eine Weile über ihre Sommersprossen und ihr Lachen nach, eine ganze Weile. Ich hatte nie damit aufgehört.

Das letzte Mal, als ich Sarah sah, kletterte sie mit ihren verschmutzten Stiefeln den Weg hoch zu meinem Fenster. Ihre Wimperntusche war vom Regen verschmiert, dass sie geweint hatte, traute ich ihr nicht zu. Mit dem zerknitterten Zettel, den ich ihr wenige Stunden zuvor geschrieben hatte, stand sie vor mir und war völlig außer Atem. Ohne eine Entschuldigung, ohne ein einziges Wort zu sagen, ging sie auf mich zu und küsste mich. Ihre Hände griffen meine Haare, so wie ich es gewohnt war, und meine wanderten zu ihren Hüften. So lange hatte ich von diesem Moment geträumt, dass er tatsächlich zur Realität wurde trieb mir Tränen in die Augen. Ich hielt Sarah so fest, wie ich konnte, weil ich innerlich wusste, dass sie wieder gehen würde. Ich weinte nicht vor Freude oder vor Sinnlichkeit. Ich weinte, weil ich wusste, dass es das letzte Mal war, dass sich unsere Lippen berührten und unsere Haut gegeneinander rieb.

In dieser Nacht schlief ich mit Sarah, und am nächsten Morgen war sie weg. Das war das letzte Mal, dass ich sie sah.

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