Kapitel 1 - Blutmond

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Mein Name ist Alissa und ich lebe seit meiner Geburt in der Kleinstadt Salisbury, die in der englischen Grafschaft Wiltshire liegt.
Mein Leben war relativ gewöhnlich, ich ging zur Schule, half meinen Eltern gelegentlich im Café und machte den typischen Mädchenkram in meinem Alter. Aber damals ahnte ich noch nicht, dass sich mein bisheriges Leben mit einem Schlag komplett ändern würde.

"Alissa, Telefon für dich!" schrie meine Mutter.
Ich ging schnell die Treppen hinunter und stolperte dabei. Ein lauter Knall war zu hören, als ich auf den Boden aufkam. Leicht stöhnend fasste ich mir an den Kopf und verfluchte leise meine Tollpatschigkeit.
"Was ist passiert?", hörte man meine Mutter voller Sorge rufen. Sie kam wie der Blitz angelaufen und begutachtete mich von oben bis unten. "Geht es dir gut, Alissa? Irgendwann bekomme ich noch einen Herzinfarkt wegen dir."
"Ja, Mum, alles bestens. Mich kriegt man nicht so leicht klein." Ich versuchte sie zu beruhigen und wechselte somit schnell das Thema. "Wer ist denn am Telefon?"
Die aufgebrachte Stimme meiner Mutter legte sich wieder und sie klang viel ruhiger als vorher. "Es ist Thai. Er sprach von irgendeiner Veranstaltung."

Ich raffte mich schnell auf und ging ans Telefon. "Hallo Thai, sorry, dass es so lange gedauert hat."
"Nicht schlimm. Was war denn los? Bist du wieder die Treppen gestürzt?" Man konnte ein leises Kichern erahnen, das von ihm kam.
Aber als ich sein Kichern hörte, musste selbst ich anfangen zu lachen.
"Ja, passiert mir in letzter Zeit häufiger. Meine Mutter meinte, du wolltest mit mir über irgendeine Veranstaltung sprechen?"
"Genau. Heute ist ja Blutmond und ich weiß, dass du total auf so ein Zeug stehst. Auf jeden Fall hab ich erfahren, dass nicht weit von hier eine Veranstaltung speziell für dieses Event stattfindet."
"Dein Ernst!?" Ich konnte meine Freude kaum im Zaum halten. "Erzähl mir mehr darüber. Wann fängt die Veranstaltung an? Und wo findet sie statt?"
"Haha, ich wusste doch, dass dir diese Info gefallen wird. Soweit ich weiß, wird es im Stile eines Mittelaltermarktes aufgebaut. Dort kann man sich dann alles mögliche kaufen von Kräutern bis hin zu Amuletten und ungefähr um 23.30 Uhr sollen einige Feuerartisten Kunststücke aufführen", verkündete Thai.
Fröhlich hüpfte ich auf der Stelle, als ich jedoch bemerkte, dass dies albern aussah, hörte ich sofort auf.
Thai ließ sich nicht von meinem Gequietsche ablenken und erzählte weiter. "Meine Mutter hat sich bereit erklärt uns zu fahren. Es ist zwar nicht weit, ist nämlich bei der Kathedrale, aber mit dem Auto geht es um einiges schneller. Isy kommt übrigens auch mit."
Isy, Thai und mich verband schon seit unserer Kindheit eine tiefe Freundschaft, beide waren zu einem Teil meiner Familie geworden.
"Hört sich super an."
"Wir holen dich dann um 21 Uhr ab. Bis später dann, Lis."
"Ja, bis später."

Ich ertappte mich selber, als ich erneut auf die Uhr schaute. Es fühlte sich an, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Gleich war es 21 Uhr, mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde ich umso ungeduldiger.
Plötzlich klingelte es an der Tür und ich raste wie ein Wirbelwind zum Eingang, dabei hätte ich beinahe meine Mutter umgerannt. "Alissa, pass doch besser auf", sprach meine Mutter mit einem gereizten Ton. "Sorry, Mum, war keine Absicht".
Ich riss die Tür auf und blickte in Thais erschrockenes Gesicht. "Alles Gut, Thai?" fragte ich leicht aufgedreht. "Ja, hast mich nur ein bisschen erschrocken. Ich merke schon, dass du es kaum abwarten kannst. Isy ist schon im Auto, also können wir gleich losfahren."

Als ich aus dem Auto stieg und mich umsah, übertraf der Anblick meine Vorstellung. Die ganze Wiese leuchtete in den unterschiedlichsten Farben. Es waren überall Lichteffekte eingebaut und erhellten somit die einzelnen Stände.
Wir verabschiedeten uns von Thais Mutter und tauchten in die Welt der Ritter, Hexen und Sagen ein.
Die Stände waren in Reihen aufgestellt, sodass diese eine Gasse bildeten. Auf einem der vielen Ständen stapelten sich eine Reihe voller Bücher über Geschichten aus dem Mittelalter, aber auch rein informative Bücher lagen darunter. Der nächste Stand war von oben bis unten mit den unterschiedlichsten Gewürzen und Kräutern beladen. Doch meine Aufmerksamkeit fiel auf den dritten Stand. Von der Decke herab hingen die unterschiedlichsten Ketten. Einige waren mit Edelsteinen verziert, andere wiederum hatten seltsame Zeichen und Symbole, die ich nicht kannte. Auf dem Tisch lagen Ringe und Edelsteine in allen Formen und Farben. Mein Blick fiel auf eine silberne Kette mit einem schwarzen Stein als Anhänger. Der Stein hatte einen Tropfenschliff und wurde zur Hälfte von der Silberkette umkapselt. Es waren einige Symbole auf der Kette eingraviert. Die Kette zog mich magisch an. Ich berührte sie, es entstand eine Distanz, ich schien mich von meiner Umwelt zu lösen.
Eine Frauenstimme durchdrang langsam mein tranceartiges Bewusstsein. "Gefällt dir die Kette, junge Dame?"
Total perplex antwortete ich: "ähm ja. Ich würde sie gerne kaufen."
"Gute Wahl. Der Onyx ist ein starker Schutzstein."
Die Verkäuferin packte mir die Kette ein, während ich mein Geld aus dem Portmonee kramte.

Ich schaute auf die Uhr, nachdem wir jeden einzelnen Stand abgeklappert hatten. Es war schon 23.20 Uhr, gleich würden die Feuerartisten ihre Show beginnen. Ich wollte gerade etwas sagen, als ich merkte, dass ich ganz alleine war. Scheinbar hatten wir uns in der Menschenmenge getrennt, ohne es bemerkt zu haben.
Ich nahm mein Smartphone in die Hand und versuchte, Thai und Isy zu erreichen. Vergeblich. Keiner nahm den Anruf an, wieder wählte ich die Nummer und im selben Moment wurde der Touchscreen dunkel. Mein Akku war gerade leer gegangen, das war typisch für mich. Ich hatte vergessen, mein Smartphone aufzuladen. Das hieß für mich, Augen offen halten und suchen.

Nach mehreren Minuten der Suche gab ich es schließlich auf. Die Menschenmenge war einfach zu groß und in diesem Durcheinander würde ich die beiden nie finden. Ich entschloss mich, die Show anzuschauen. Wer weiß, vielleicht hatte ich Glück und lief den beiden zufällig über den Weg.

Die Show war einfach atemberaubend, jedoch fehlte jegliche Spur von Thai und Isy. Langsam hatte ich mich damit abgefunden und schließlich war es bald soweit. Der Blutmond.
Ich legte mich auf die andere Seite der Wiese hin. Der große Platz wurde absichtlich für die Leute freigehalten, die den Blutmond betrachten wollten.

Der Vollmond tauchte langsam in ein kräftiges Rot ein, man sah die staunenden Gesichter der Menschen, die hinaufblickten.
Ich richtete mich langsam auf und überlegte, was ich nun machen sollte. Ich konnte schlecht nach Hause gehen und die anderen einfach hier zurücklassen. Erneut schaute ich mich in der Menge um, in der Hoffnung die beiden zu finden. Seufzend bewegte ich mich zu einer etwas abgelegenen Bank und nahm dort Platz. Gedankenlos betrachtete ich den Mond, als es mir plötzlich eiskalt den Nacken runterlief. Ich drehte mich um und blickte in die menschenleere, dunkle Ferne. Obwohl niemand zusehen war, bekam ich ein mulmiges Gefühl und bewegte mich wieder Richtung Markt. Nachdem ich wenige Schritte vorangekommen war, umfasste jemand mein Handgelenk. Mein Herz raste und mein Atem wurde schneller. Mein Blick wanderte nach hinten. Vor mir stand ein junger Mann mit zerzausten Haaren.

"Na, Süße, ganz alleine hier?" Schelmisch grinste er mich an. "Willst du mir ein bisschen Gesellschaft leisten?"
Irgendetwas störte mich an ihm, das Gefühl konnte ich nicht in Worte beschreiben.
"Eher nicht, ich suche eigentlich meine Freunde", erwiderte ich selbstbewusster als ich war. Am liebsten wäre ich schreiend davongelaufen.
"Soll ich dir helfen, deine Freunde zu suchen? Lass uns dort anfangen."
Dabei zeigte er mit seinem knochigen Finger auf eine Stelle, wo mehrere Bäume eingepflanzt waren.
"Ich glaube nicht, dass sich meine Freunde dort befinden." Sein Griff umklammerte mein Handgelenk immer kräftiger, sodass es anfing zu schmerzen.
"Lassen Sie mich bitte los." Ich versuchte mich aus seinem Griff zu befreien, doch er zerrte mich näher zu sich. Da bemerkte ich den beißenden Geruch von Alkohol. Panik stieg in mir auf. Meine Hände zitterten und der kalte Schweiß brach über mich herab. Ich sah schon vor meinem inneren Auge die Schlagzeilen in den Nachrichten.
Der Mann zog mich zu den Bäumen...

Arely - Das VersprechenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt