Kapitel 2 - Prophezeiung

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Ich malte mir die schrecklichsten Dinge aus, während mich der Mann immer kräftiger zu den Bäumen zog. Doch sein wackeliger Gang sollte zum Verhängnis werden. Er stolperte über seine eigenen Beine und fiel zu Boden. Das war meine Gelegenheit zu fliehen. Ich befreite mich aus seinem Griff und rannte um mein Leben. Meine Lunge brannte und der kalte, schneidende Wind streifte mein Gesicht. Doch ich ignorierte die Schmerzen und lief weiter. Als ich die Kathedrale erreicht hatte, wiegte ich mich erstmals in Sicherheit.

Die Kathedrale stammte aus dem 13. Jahrhundert. Der wunderschöne historische Baustil entsprach dem frühen englischen Gotik und der Vierungsturm, der Anfang des 14. Jahrhunderts zusätzlich erbaut wurde, ist mit 123 Metern der höchste Kirchenturm Großbritanniens. Ich fühlte mich schon immer in der Nähe dieser Kathedrale geborgen. Weshalb, konnte ich nicht sagen.
"Lis, da bist du ja", ertönte eine weibliche Stimme hinter mir. Ich wendete mich der Stimme zu und erblickte Isy und Thai.
"Wo wart ihr? Ihr wisst nicht, was mir passiert ist", sprach ich mit klagender Stimme. In Tränen aufgelöst, sprang ich Isy in die Arme. Ich erzählte ihnen alles. Beide hörten mir aufmerksam zu und brachten mich sicherheitshalber nach Hause.

Im Bett dachte ich nochmals über alles nach. Der Tag hatte mir echt zu schaffen gemacht und schließendlich fiel ich in einen tiefen Schlaf.

Im Halbschlaf verfolgte ich den Unterricht. Als die Klingel läutete, war ich erleichtert, dass die Schule endlich zu Ende war. Entspannen konnte ich mich jedoch noch nicht. Ich musste noch zur Bibliothek, um einige Recherchen für meine mündliche Prüfung zu machen. Die Schulbibliothek hatte einige nette Bücher zur Auswahl, doch die Anzahl war recht bescheiden.
In der Stadtbibliothek suchte ich mir eine große Reihe an Büchern aus. Bevor ich die Bücher ausleihen wollte, riskierte ich vorsichtshalber noch einen Blick hinein. Dafür setzte ich mich an einen der vielen Tische und begann in den Büchern zu blättern.

"Ist der Platz hier noch frei?"
Ich zuckte zusammen, denn ich war schon einige Minuten in mein Buch vertieft. Der Junge deutete auf den Stuhl neben mir. Ich nickte und widmete meine Aufmerksamkeit wieder den Büchern zu, doch mein Blick schweifte unkontrolliert wieder zu dem Jungen. Ich musterte ihn von oben bis unten. Mit seinen wunderschönen meeresblauen Augen betrachtete er die Seiten seines Buches. Sein goldblondes Haar war leicht gewellt und umspielte sein Gesicht. Er hatte eine starke Anziehungskraft, ein inneres Leuchten. Seine leicht bräunliche Haut war rein und makellos. Scheinbar starrte ich ihn schon eine Weile an, denn er blickte mich an. "Hast du dich in mich verliebt oder wieso starrst du mich so an?"
Er lachte. Ich spürte, wie sich die Röte ausbreitete. Wahrscheinlich war ich so rot wie eine Tomate. Peinlich berührt entschuldigte ich mich. "Tut mir leid. Ich wollte nicht starren, aber ich war so fasziniert von deinen Augen. Ist eine sehr schöne Farbe." Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken.
Er lächelte mich an. "Ich bin Colin und wie ist dein Name?"
"Alissa", lächelte ich verlegend.
"Du bist mir echt sympathisch, Alissa. Ich würde dich gerne wiedersehen." Dabei glitt seine Hand immer näher zu meiner. Seine Finger berührten meinen Handrücken. Doch das Kribbeln auf der Haut und die Schmetterlinge im Bauch verschwanden so schnell wie sie auch gekommen waren. Colin riss seine Hand mit einem schmerzverzerrten Gesicht von meiner weg.
"Alles gut mit dir?" Ich war überrascht und leicht beunruhigt.
"Ja, alles bestens. Hast mir nur gerade einen Stromschlag verpasst." Er nahm seine Bücher in die Hände. "Dann würde ich sagen, wir sehen uns morgen um die selbe Uhrzeit wieder?"
"Hört sich gut an."
Total verknallt sah ich ihm hinterher, bis er hinter den Bücherregalen verschwand.

Mit meinen ausgeliehenen Büchern im Gepäck machte ich mich auf den Heimweg. Heute nahm ich nicht den Bus, sondern streifte ein wenig die Straßen entlang. Ich entdeckte ein kleines lilafarbenes Zelt. Es stach direkt ins Auge. Ich konnte mich nicht entsinnen, dieses jemals gesehen zu haben. Auf einem großen Schild stand geschrieben: "Madame Hana" . Neben dem Eingang war ein Plakat aufgehängt: "Sonderangebot: Nur heute für 5£ ein Blick in die Zukunft."
Neugierig, wie ich war, wagte ich mich in das Zelt hinein. Eine junge Frau mit langen, glänzenden ebenholzfarbenden Haar saß an einem kleinen runden Tisch. Wegen dem Schleier in ihrem Gesicht konnte man nur ihre bräunlichen Augen sehen. Es war gerade zu klischeehaft. Auf dem Tisch stand eine Glaskugel, gleich daneben lagen Tarotkarten. Das Licht war gedämpft und verleihte dem kleinen Raum eine geheimnisvolle Atmosphäre. Aber auch die Frau umgab eine mysteriöse Aura.
"Komm nur herein, Fräulein. Was kann Madame Hana für dich tun?"
Ich ging zum Stuhl, der vor Madame Hana stand und setzte mich ebenfalls an den Tisch.
"Ich habe das Sonderangebot vor ihrem Eingang gesehen und würde gerne etwas über meine Zukunft erfahren."
"Na, dann streck mir mal deine Handfläche aus." Ihre zärtlichen Hände umfassten die meine.
"Ich sehe einen langen Weg bis zu deinem Ziel. Ein lange Reise, die durch Licht und Dunkelheit führt. Einen jungen Mann, der Liebe und Hoffnung bringt, aber auch Kummer und Schmerz." Ihr Blick veränderte sich. Es war ein ernster und besorgter Blick.
"Du musst Acht geben, es werden einige Menschen in deinem Leben eintreffen, die nichts Gutes wollen. Sie wollen dein Leben."
Den letzten Satz betonte sie besonders, sodass mir ein kalter Schauer den Rücken runterlief. Worauf hatte ich mich hier eingelassen? Mit jedem Satz wurde ich ungeduldiger. "Können Sie mir sagen, was das für Menschen sind?"
Sie blickte mir kurz in die Augen und ich spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. Die Frau verschweigte mir doch etwas. Sie nahm ihre Kugel und blickte hinein. Dabei hielt sie immer noch meine Hand. Einige Sekunden oder sogar Minuten waren verstrichen, die Ungeduld zerrte an mir und das Gefühl, dass ich schon eine Ewigkeit an meinem Platz saß, breitete sich aus. Plötzlich fing sie an zu sprechen. "Schwarz umhüllte Menschen. Sie beten eine Gottheit an... Rituale... Schmerz... Dunkelheit. Ich höre Menschen schreien. Es sind Menschenopfer, sie werden bei lebendigem Leib verbrannt. Ich kann die Gesichter nicht erkennen."
Sie blickte mir tief in die Augen. "Tut mir leid, meine Liebe. Ich kann dir nicht weiter helfen." Madame Hana wirkte sehr nervös.

Plötzlich fiel mir meine Kette wieder ein. "Können Sie mir vielleicht sagen, was das für Symbole sind?" Sie nahm die Kette in die Hand und betrachtete diese eindringlich. "Woher hast du diese Kette?"
"Vom Markt am Tage des Blutmondes. Wieso fragen Sie? Stimmt etwas mit der Kette nicht?"
Ihre Stimme wurde kräftiger. "Wie soll ich dir das sagen? Diese Kette ist gefährlich." Ihr Blick schien mich zu durchbohren. Sie räusperte sich und fuhr fort: "Ich hielt es für ein Märchen. Doch es gibt Überlieferungen über einen Schlüssel. Magische Zeichen sind auf diesen Schlüssel eingraviert, die die Pforte zu einem bestimmten Ort öffnen."
Ich verstand überhaupt nichts mehr. Es war ein einfacher Stein mit ein paar Zeichen. Er leuchtete nicht auf, bewegte sich nicht und verlieh mir keine besonderen Kräfte. "Wissen Sie, ich muss nun auch los. Hier ist Ihr Geld und danke."
Ich musste raus, am besten nach Hause. Die ganze Sache stieg mir zu Kopf. Eilig griff ich nach meiner Kette und verschwand ebenso schnell.

Arely - Das VersprechenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt