Teil 10

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Als ich das nächste Mal auf die Uhr schaue, ist es bereits 22:36 Uhr. Ich bin seit sieben Stunden hier und arbeite an meinem Portfolio. Müde reibe ich meine Augen und blicke mich im Raum um. Langsam ist es Zeit Feierabend zu machen. Vorerst muss ich mein Portfolio aber noch einmal durchschauen und überlegen, was ich noch machen muss. Sonst kann ich heute nicht schlafen. Drei Wochen sind nicht lange und ich will es in einer Woche eigentlich fertig haben. Schließlich muss ich meine Skulptur auch noch beenden. Ich seufze, blättere durch meine Notizen und dann durch mein Portfolio.

Das Thema "Identität und Selbstwahrnehmung" ist wohl das beste Thema, welches ich hätte nehmen können. Ich weiß von Anfang an, dass meine sexuelle Identität eine zentrale Rolle in meiner Selbstwahrnehmung spielt und ich das deshalb auch in mein Portfolio einfügen möchte. Angefangen habe ich mit einer Reflexion über meine Erfahrungen als lesbische Frau. Ich erinnerte mich an Momente, an denen ich mich nicht akzeptiert gefühlt habe und an die Zeiten, an denen ich stolz auf meine Identität war. Zum Beispiel, als ich mich vor meiner Mutter geoutet habe und sie mehr als nur stolz auf mich war. Ich skizzierte meine Gedanken in meinem Skizzenbuch. Das war das Fundament und der Anfang meiner Arbeit. Auf der ersten Seite habe ich natürlich meinen Namen, Studiengang und alle Infos über das Portfolio stehen. Dann habe ich mit einem Einleitungstext begonnen, um die Professorin darauf vorzubereiten, was auf sie zukommt. 

In meinem Portfolio mit dem Titel „Identität und Selbstwahrnehmung" lade ich den Betrachter ein, in meine persönliche künstlerische Reise einzutauchen. Die Frage, wer ich bin und wie ich mich selbst wahrnehme, hat mich in den letzten Jahren intensiv beschäftigt. Als lesbische Frau habe ich viele Facetten meiner Identität entdeckt – von der Freude und dem Stolz bis hin zu den Herausforderungen und Zweifeln. Kunst war für mich immer ein Ausdrucksmittel, um meine innersten Gedanken und Gefühle zu kommunizieren. In diesem Portfolio möchte ich nicht nur meine künstlerischen Arbeiten präsentieren, sondern auch die Geschichten und Emotionen, die hinter ihnen stehen. Durch Bodypainting, Selbstporträts und kreative Texte erkunde ich die Komplexität meiner Identität und die Rolle, die meine Sexualität dabei spielt. Dieses Projekt ist für mich nicht nur eine akademische Herausforderung, sondern auch ein Schritt zur Selbstakzeptanz. Ich hoffe, dass meine Werke nicht nur meine eigene Reise widerspiegeln, sondern auch andere ermutigen, über ihre eigene Identität nachzudenken und diese zu feiern. Möge Kunst ein Raum für Reflexion und Verständnis sein.

Dann kommt das Kapitel 1 mit meinen visuellen Darstellungen. Darin befinden sich alle gemalten und skizzierten Kunstwerke, die ich in den letzten Wochen erstellt habe. Darunter befinden sich Bodypaintings, Selbstportraits und Malereien aus meinem Leben. Die besagten Bilder erstrecken sich über 10 Seiten, in denen ich mich selbst verwirklicht habe. Ich wusste von Anfang an, dass ich meine Haut in ein Kunstwerk verwandeln möchte und bin schnell zum Thema Bodypainting gekommen. Mit verschiedenen bunten Farben oder auch dunklen realisierte ich verschiedene Kunstwerke. Jedes hatte eine andere Bedeutung, was ich jederzeit dokumentiere, damit ich es noch dazuschreiben konnte. Mein Outing stellte ich bunt dar, während ich die Trennung meiner ersten Freundin mit dunklen Farben darstellte. All diese Situationen in meinem Leben machten meine Identität aus und haben mich jederzeit geformt. Den Prozess des Bodypaintings habe ich dokumentiert. Fenja hat mir dabei geholfen. Sie hat Fotos gemacht, während ich die Farben auftrug, um den kreativen Akt selbst zu zeigen. Manche Fotos habe ich schwarz weiß gelassen und manche bunt. Das kommt auf die Stimmung im Bild an. In manchen Lache ich herzensfroh, während mein Blick in anderen kalt wirkt. 

Nach den Bildern habe ich Selbstportraits vor einem weißen Bettlaken erstellt. Ich möchte nicht nur meinen bemalten Körper, sondern auch emotionale Ausdrücke zeigen. Ich experimentierte mit verschiedenen Gesichtsausdrücken und Posen, um die unterschiedliche Aspekte ihrer Identität einzufangen. In einem Bild stelle ich mich lächelnd dar, um meine Akzeptanz zu zeigen, während ich in einem anderen Bild verletzlich und nachdenklich wirke, was meine inneren Kämpfe widerspiegelt. Kapitel zwei erstreckt sich nochmal über 10 Seiten mit meinen textlichen Begleitungen. Ausführliche Texte über die Erfahrungen einer lesbischen Frau, Herausforderungen und verschiedene Gefühle. Ich habe auch andere Leute der Community gefragt und andere Meinungen mit eingebracht, die mich geprägt haben. Bedeutende Zitate von Künstlern, Aktivisten oder Persönlichkeiten, die mich inspiriert haben. All sowas eben. 

Stolz schaue ich auf meine bisher erarbeiteten Seiten. Mir fehlt nur noch die Überarbeitung der Texte. Ich sortiere gerade noch einige Bilder und verändere immer wieder die Reihenfolgen meiner Werke. Mit schiefem Blick schaue ich auf die Reihenfolge und ändere sie ein fünftes Mal. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es bereits nach 23 Uhr ist. Ich kann nicht gehen, bis ich die richtige Reihenfolge habe. Ich zücke bereits mein Handy, um meine Mutter anzurufen, da geht die Tür des Raumes auf einmal auf. "Guten Abend Frau Bergmann, sie sind ja immer noch hier? Ich dachte sie haben vergessen das Licht auszumachen, deswegen bin ich nochmal gekommen. Ich hoffe ich habe Sie nicht wieder erschreckt.", begrüßt mich die Weiß und kommt mit langsamen Schritten auf mich zu. Ich nicke ihr zu und sage: "Nein, alles gut haben Sie nicht. Ich wollte vorhin gehen, aber ich bin nicht zufrieden mit der Reihenfolge meines Portfolios." Schmunzelnd hört sich die Professorin meine Beschwerden an und stützt sich auf meinen Schreibtisch ab. Ihre rechte Hand ruht neben meinem Portfolio, während die linke über die Seiten huscht. Ihre Nähe macht mich unfassbar nervös, was sie zu merken scheint. Sie blickt immer wieder zu mir herüber, während ich auf ihre perfekten Hände starre. "Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt.", beginnt sie und blickt mich prüfend an "Sie müssen aufhören an sich selbst zu zweifeln. Die Reihenfolge ist perfekt, so wie sie ist. Ich darf Ihnen eigentlich sowieso keine Tipps geben, aber lassen Sie es so." Kaum merklich nicke ich und lächle sie dankbar an. 

Die Professorin schaut mich einige Sekunden an, bis sie leise sagt: "Sie sehen aus wie sie." Ich ziehe meine Augenbrauen fragend zusammen und frage: "Wie wer?" Diese lächelt mich warm an und sagt leise: "Na, wie ihre Mutter. Der aller gleiche Mund. Die Augen haben sie jedoch von Hans." Hans ist mein Vater. Sie hat tatsächlich Recht. Das haben schon viele gesagt. Ich lehne mich ein Stück zurück, damit ich sie besser anschauen kann und murmle: "Das haben schon viele gesagt. Kennen sie meinen Vater gut?" Frau Weiß setzt sich auf meinen Schreibtisch und erklärt: "Ja, würde ich schon sagen. Weit nicht so gut, wie Liana, aber auch gut." Wissend tippe ich auf mein Kinn und frage: "Hat er schon immer so viel gearbeitet?" Überrascht öffnet sie ihren Mund und antwortet sogleich: "Tatsächlich schon. Als Liana mit dir, mit Ihnen schwanger war, ist  er immer mehr auf Ausstellungen. Liana konnte zu der Zeit ja nicht mit. Sie hat Kunstwerke erstellt, die Hans dann ausgestellt hat." Dass sie mich kurz geduzt hat, ist mir nicht entgangen. Ich nicke und sage: "Danke. Meine Mutter hat sich gefreut, als ich ihr gesagt habe, dass ich Ihnen ihre Nummer gegeben habe." Sofort wird ihr Gesichtsausdruck weicher. "Das ist schön.", murmelt sie leise. 





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