Kapitel 4

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Die vergangene Nacht verbrachte ich damit mich im Bett herum zu wälzen, an die Decke zu starren und dem Heulen der orkanartigen Windböen zu lauschen, welche übers Land zogen. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss sah ich einen kleinen weißen Lieferwagen. Aber da war noch etwas. Der Junge aus dem Traum den ich letztens hatte sprach zu mir. Er meinte immer zu, ich wäre in Gefahr und solle mich in Acht nehmen. Seine wunderschönen blauen Augen waren weit aufgerissen und in ihnen stand die blanke Furcht. Die haselnussbraunen Haare klebten durch den kalten Schweiß, der ihm auf die Stirn getreten war, an seinem Kopf. Man konnte deutlich erkennen wie sich seine Brust rasch hob und senkte so als wäre er gerade einen Marathon gelaufen.

An Schlaf war nach diesen Bildern nicht mehr zu denken. Ich hatte vor einigen Tagen begonnen ein Traumtagebuch zu führen. Es mag vielleicht albern klingen, aber mir war als würde es meiner Traumwelt eine gewisse Struktur verleihen. Aus wirren Fantasien wurden niedergeschriebene Worte. Den Traum dieser Nacht hatte ich nun schon zum fünften Mal. Was hatte das bloß zu bedeuten?

Mein Blick fiel auf den Wecker, welcher 05:36 Uhr anzeigte. Da ich bereits um 6 Uhr früh aufstehen musste um pünktlich in die Schule zu kommen, versuchte ich gar nicht erst wieder einzuschlafen. Stattdessen richtete ich mich in eine sitzende Position auf und rieb mir über die Augen. Mein Blick schweifte durch mein Zimmer. Es war wirklich nichts Besonderes, apfelgrüne Wände und dunkle Holzmöbel. Um etwas frische Luft ins Zimmer zu lassen, begab ich mich auf den Weg zum Fenster. Das Licht der Straßenlaterne vor unserem Haus, fiel durch die Öffnungen der halb heruntergelassenen Jalousie herein womit der Raum in ein fast schon gespenstisches Licht getaucht wurde. Meine Hand näherte sich dem Fenstergriff um das kleine Tor zur Außenwelt zu öffnen. Kurz darauf strömte die kühle Luft ins Zimmer. Oh ja, der Winter war eindeutig im Anmarsch. Zwar ließ mich die eisige Luft frösteln, dennoch genoss ich sie, da sie vermochte meine Lebensgeister zu wecken und jede Spur von Müdigkeit zu vertreiben.

Der Klang von aneinander klappernden Tellern lockte mich aus meinem Zimmer. Ich trat auf den Flur hinaus und beschleunigte meine Schritte, da mir der Geruch von Kakao in die Nase stieg. Unsere offene Küche war mit weiß lackiertem Holz ausgestaltet und direkt mit dem Esszimmer verbunden. Grandma begrüßte mich mit einem Becher Kakao in der Hand, welchen ich ihr dankend abnahm. Meine Füße trugen mich zu meinem Platz an unserem großen gläsernen Esstisch. Auf meinem Platzdeckchen war bereits ein Teller mit einem Brötchen, welches mit Erdbeermarmelade bestrichen war platziert worden.

Meine Mahlzeit aß ich allein, da Großmutter morgens nicht sehr gesprächig war und es vorzog die Küche aufzuräumen anstatt eine Konversation zu führen. Zwar würde ich manchmal gerne das eine oder andere mit ihr bereden, aber wahrscheinlich war es besser wenn sie unwissend blieb. Dennoch überlegte ich fieberhaft ob ich ihr von meinen Träumen erzählen sollte oder nicht. Sie war eine fürsorgliche Frau, doch ich wollte sie nicht mit meinen Sorgen belasten. Wahrscheinlich bildete ich mir alles nur ein. Es war mir als hätte ich einen Film gesehen an den ich mich nicht erinnern konnte, welcher sich aber dennoch in mein Unterbewusstsein gebrannt hatte.

Grandma kam ins Zimmer und teilte mir mit das es bereits ziemlich spät war und ich mich beeilen sollte. Schnell begab ich mich ins Bad, welches gegenüber meinem Reich lag und führte meine Morgenroutine durch. Make-Up war nicht wirklich das meine, aber wahrscheinlich lag es eher daran, dass ich mir mit dem Eyeliner einfach jedes Mal ins Auge fuhr, und weniger daran, dass ich es nicht mochte. So kam es das mein Make-Up bloß aus etwas abdeckender Schminke, Wimperntusche und zartrosanem Lipbalm bestand. Mein Outfit setzte sich aus einer bequemen Jeans und meinem grünen Lieblingspullover zusammen. Als ich gerade das Zimmer verlassen wollte, fiel mir die silberne Kette auf meinem Nachtkästchen auf. Sie war Dad's letztes Geschenk an mich und war relativ einfach bis auf ein herzförmiges Medaillon, welches, wenn man es aufklappte, ein Bild von Luke, Vater und mir preisgab. In der Innenseite war „Für meine kleine Prinzessin" eingraviert. Von außen wirkte die Kette schlicht, doch in ihrem Inneren barg sie doch meinen größten Schatz. Dieses besondere Stück führte mir immer wieder aufs Neue vor Augen, dass es auf die inneren Werte ankam und dass man nichts und niemanden aufgrund des Aussehens vorschnell beurteilen sollte. Im Nachhinein glaubte ich dies war die Botschaft, welche mir Vater vermitteln wollte. Dies und die Tatsache, dass er und Luke immer an meiner Seite sein würden. Eigentlich wollte ich mich von diesem Schmuckstück lösen, da ich es in letzter Zeit nicht einmal mehr zum Schlafen abgenommen hatte, doch mein Herz hing viel zu sehr daran. Schließlich fand sie doch einen Platz um meinen Hals, jedoch versteckte ich den Anhänger unter dem Pulli. Meine fertiggepackte Schultasche fand ihren Platz um meine Schultern, während ich die Treppe hinunter lief. An der Tür schlüpfte ich in meine schwarzen Chucks und rief Oma noch schnell ein „Bis später!" zu.

Auf meinem Weg zur Bushaltestelle bemerkte ich, dass mir Luke heute noch gar nicht über den Weg gelaufen war. Ach ja, mir war entfallen, dass er heute einen Ausflug mit seiner Klasse machte und deshalb schon einen früheren Bus genommen hatte. Gerade als ich die Haltestelle erreichte, wollte mein Bus wegfahren, doch als mich der Fahrer im Rückspiegel sah blieb er stehen und öffnete die Tür. Ich kannte nur eine Person, welche auf mich warten würde. Charlie. Ich stieg ein und schon erklang die Stimme des herzlichsten Busfahrers, den ich kannte. „Heute war es aber wiedermal knapp, Luna. Du solltest beim Gehen mehr auf die Zeit achten und weniger träumen. Weißt du noch wie du damals gegen den Baum gelaufen bist?" Er sah mich mit einem Grinsen an, welches den Anschein hatte durch nichts vertrieben werden zu können. Ich verdrehte nur die Augen und bemerkte: „ Charlie, das ist zwei Jahre her und ziemlich schwer zu vergessen wenn du mich fast täglich daran erinnerst." Nach dieser Aussage ging ich los um mir einen freien Platz zu suchen. Ich platzierte mich auf einer Sitzgelegenheit und steckte mir meine weißen Kopfhörer in die Ohren. Der Klang eines Klaviers umhüllte mich, während ich den Blättern zusah, welche der Wind zum Tanzen brachte.

Der Bus kam zum Stehen und ich merkte, wie schnell doch die Zeit vergangen war. Es hatte schon wieder angefangen zu regnen. In den letzten Tagen war Regen so etwas wie mein ständiger Begleiter. Durchnässt betrat ich das Schulgebäude nur um meine beste Freundin Paige zu sehen, welche vollkommen trocken war. Anscheinend war hier jemand intelligent genug an einen Regenschirm zu denken. Sie begrüßte mich mit einem Lächeln, doch verzichtete aufgrund meines Zustandes lieber auf eine Umarmung. Paige und ich waren seit meinem ersten Schultag befreundet und bei ihr hatte ich das Gefühl wirklich verstanden zu werden. Doch manchmal fragte ich mich, warum sie sich überhaupt mit mir abgab. Sie war „Everybody's Darling", während ich mir zeitweise eher wie ihr Anhängsel vorkam. Ich schüttelte den Kopf, um meinen Kopf von diesen Gedanken zu befreien und machte mich mit der Blondine, welche mit mir durch dick und dünn ging auf den Weg zu unserer ersten Stunde. Philosophie.

Die Stunde beschäftigte sich mit der Frage „Wer bin ich?" Es war eigentlich ein sehr interessantes Thema. Der Unterricht war schneller als gedacht vorüber. Wir sollten als Hausaufgabe versuchen die Frage, wer man denn sei zu beantworten. Nachdem klingeln suchte ich noch unseren Professor auf, da ich mir nicht wirklich vorstellen konnte, wie dieser Arbeitsauftrag umzusetzen war. Er meinte mit mildem Lächeln: „ Um die Frage nach der eigenen Person beantworten zu können muss man sich zuerst mehrerer anderer Fragen widmen. Was macht mich als Mensch aus? Was hat mich in meinem Leben beeinflusst? Welche Erlebnisse machen mich zu dem der ich bin?" Mit dieser Erklärung konnte ich auf Anhieb eigentlich nicht so viel anfangen, doch die restlichen Unterrichtsstunden verbrachte ich damit über Mr.Callaghans Worte nachzudenken.

Nachdem ich den Unterricht erfolgreich absolviert hatte machte ich mich so schnell wie möglich auf den Weg zum Bus. Nicht einmal von Paige verabschiedete ich mich. Als es geklingelt hatte, war ich sofort aus dem Klassenraum gestürmt. Ich erinnerte mich daran, was mir Grandma so oft erzählt hatte. Bevor ich elf geworden war, war ich viel offener gewesen. Doch welche Begebenheit hatte mich dazu gebracht mich zu verschließen? Die Busfahrt kam mir wie eine Ewigkeit vor. Ich war ganz hibbelig, denn nun wusste ich genau wonach ich suchen musste! Was hatte mich dazu gebracht die Welt mit anderen Augen zu sehen? Ich war gespannt aber auch voller Angst. Was würde mich in meiner Vergangenheit erwarten? Hatte ich dieses Ereignis etwa nur aus Selbstschutz vergessen? Weil ich es nicht ertragen konnte?



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