Kapitel 5

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Ich hielt mich nicht damit auf meiner Großmutter zu sagen, dass ich wieder da war. Meine Beine trugen mich, schneller als ich es selbst realisieren konnte, in den oberen Stock. Meine Schultasche landete auf dem Boden meines Zimmers, während ich die Tür hinter mir schloss. 

Mein altes Tagebuch. Ich musste unbedingt mein altes Tagebuch finden, welches ich früher regelmäßig geführt hatte.

Der Inhalt meines Schrankes befand sich in kürzester Zeit auf dem ganzen Boden verteilt. Ich wühlte mich durch Berge von Kleidung, Büchern und jeder Menge Krimskrams. Da der gesuchte Gegenstand nicht zu finden war, beschloss ich auf dem Dachboden nachzuschauen.

Alles war von einer dicken Staubschicht überzogen. Lukes und meine Kindersachen sowie Bücher und Spielzeug. Auch hier nichts. Doch als ich den niedrigen Dachboden verlassen wollte, ertönte ein Knacksen. Ich war auf Glas getreten. Gott sei Dank hatte ich meine Schuhe anbehalten. Meine Augen suchten nach dem nun beschädigten Stück. Es war ein Familienfoto auf welchem Luke, Dad und ich fröhlich in die Kamera lächelten. Ich entfernte vorsichtig das zersplitterte Glas und betrachtete das Bild genauer. Wir wirkten so sorglos, als würde alles Böse auf der Welt an uns abprallen. Es schien wie die perfekte Illusion, die Illusion einer heilen Welt.

Es traf mich wie ein Blitzschlag, nun wusste ich wo mein Tagebuch zu finden war. Ich nahm das Foto aus dem Rahmen und stopfte es in meine Hosentasche.

Schnell verließ ich das Haus und holte mein Fahrrad aus dem Schuppen. Großmutter musste mich gehört haben, denn sie trat in dem Moment, in dem ich mich gerade auf den Sattel setzte, aus der Haustür. „Luna! Wo willst du denn hin?", rief Grandma mit besorgter Stimme. „Ich bin vor dem Abendessen wieder da. Mach dir keine Sorgen!", ließ ich sie wissen.

Bei jedem Blick, den ich während der Fahrt über meine Schulter warf, stellte ich fest wie weit ich mich bereits von meinem zu Hause entfernt hatte. Bald schon war es nicht mehr zu sehen und ich konzentrierte mich darauf mit aller Kraft in die Pedale zu treten.

Es fühlte sich so an als würde mir der kalte Fahrtwind ins Gesicht schneiden und auch meine Finger bekamen die Auswirkungen der Temperatur zu spüren, sie wurden langsam steif und das Gefühl in ihnen ging langsam verloren.

Mein Weg führte mich in das Zentrum des Dorfes, welches schon ein Stück von unserem Wohnsitz entfernt war. Während unser Haus in der Nähe des Waldes war, sah man hier nicht einmal eine Andeutung von Wald. Der Ort verfügte über ein Rathaus sowie eine Kirche, einige Geschäfte und einen Bahnhof, auch viele Wohnhäuser waren in den letzten Jahren errichtet worden, doch wollte man zur Arbeit oder in die Schule musste man wohl oder übel in die Stadt fahren. Starke Stürme hatten den Gebäuden ihre fröhlichen Farben genommen, weshalb sie trostlos und trüb wirkten. Der Geruch von Regen lag bereits in der Luft und hatte anscheinend alle Einwohner von den Straßen vertrieben, da auf diesen kein Anzeichen menschlichen Lebens zu sehen war. Die Wolken färbten sich bereits grau, was wohl auf einen baldigen Wolkenbruch schließen ließ.

 Das Haus der Frau, welche vermochte Licht ins Dunkel zu bringen, tauchte auf meiner rechten Seite auf. Im Gegensatz zu den anderen wirkte es gerade zu einladend. Es war ein apricot gestrichenes Haus, an welchem sich Efeu empor rankte. Ich stieg von meinem Rad ab und folgte dem Schotterweg, welcher vereinzelt von kleinen Laternen gesäumt war. Dieser führte mich um die Behausung herum bis ich mich selbst vor der Haustüre wiederfand. Mein Gefährt lehnte ich gegen die Hauswand, danach erklomm ich die wenigen Stufen. Statt einer Klingel gab es hier eine richtige Glocke, welche ich nach tiefem durchatme läutete. Nun gab es kein Zurück mehr. Ich überlegte fieberhaft, ob ich die Sache nicht doch lieber ruhen lassen sollte, doch in diesem Moment öffnete sich die Tür.

Eine ältere Frau mit kurzen dunkelbraunen Haaren, welche schon von einigen grauen Strähnen durchzogen waren, blickte mich aus ihren blauen Augen an. Verwundert hob sie eine Augenbraue und fragte: „Luna? Was machst du denn hier?" „Äh, hallo", ich stockte, „Hätten Sie vielleicht einen Augenblick Zeit?" Noch immer etwas verdutzt blickend gewährte sie mir schließlich Einlass in ihr Heim.

Die TräumerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt