*** eine Woche später ***
Ich sitze im Flieger; noch etwa neun Stunden, dann stehe ich mitten in meinem neuen Leben, das ein Jahr andauern wird. Neun Stunden, dann sehe ich Sophy nach einem Jahr endlich wieder. Neun gottverdammte Stunden, in denen ich mich immer weiter von meinen Eltern entferne. Neun Stunden, die bestimmt nicht so schnell vergehen, wenn ich weiterhin nur die Minuten zähle.
Ich höre Musik, gerade kommt mein Lieblingssong, ein Wunder, wenn man bedenkt, dass meine extralange Playlist über 380 Titel umfasst. Noch acht Stunden. Acht Stunden, in denen ich nichts zu tun habe, außer aus dem Fenster zu schauen und nichts zu sehen bis auf schwarze Nacht. Ich friere und wickle mich fester in meine Decke. "Acht Stunden", wiederhole ich immer wieder in meinem Geist. "Nur noch acht Stunden."
Sieben Stunden noch. Ich versuche angestrengt, einzuschlafen, aber beim Fliegen fiel mir das schon immer etwas schwer. Einmal, als ich ganz klein war, habe ich auf den Schoß meiner Tante erbrochen und seitdem bereitet mir Fliegen Probleme. Eine Stewardess kommt mit ihrem kleinen Wagerl mit Nahrung und fragt uns Passagiere, ob wir etwas essen wollen. Ungeduldig schaue ich zu, wie sie meinem Hintermann Orangensaft einfüllt. Mein Magen knurrt, die Stewardess und meine Sitznachbarin lachen. Lachen die mich aus? Bestimmt. Endlich: Mein Essen. Ist zwar nur Fertigessen aus dem Supermarkt, aber es ist Essen. Es geht um's Prinzip. Sieben Stunden. Ich esse den ersten Bissen meiner Lasagne und beobachte die Nacht. Sieben Stunden, bis ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen habe. Dieser Gedanke gibt mir Kraft. Ich esse weiter.
Sechs Stunden, bis ich das erste Mal New York mit meinen eigenen Augen erblicke und nicht nur am Bildschirm. Wie das Gefühl wohl sein wird? Wie wird die Stadt aussehen? Genau so wie in Filmen und den Videos, die Sophy gemacht hat? Oder riecht New York anders als Wien? Ist das überhaupt relevant? Noch sechs weitere Stunden, bis ich all diese Dinge in Erfahrung bringen werde. Sechs. Lange. Stunden.
Noch fünf Stunden. Ich schlafe. Oder versuche es wenigstens. Denn falls ich im Flieger doch einschlafe, dann habe ich einen sehr leichten Schlaf und kann relativ einfach aufgeweckt werden. Und ein weiterer Faktor ist, dass ich in den letzten paar Tagen vor Aufregung kaum Schlaf abgekriegt habe. Ich höre wieder den ersten Song meiner Playlist. Verdammt. Noch fünf Stunden und keine neuen Lieder mehr, die ich hören kann.
Vier Stunden und ich bewundere die Physik dafür, dass das Wasser in meinem Becher nicht über den Rand schwappt. Ich war nie gut in dem Fach, aber zu sowas reicht's. Vielleicht lag es auch nur an meinem Professor; er hat mich nie so richtig gemocht. Ich sollte mir ernsthaft eine Beschäftigung für die nächsten vier langen Stunden suchen. Ein Buch wäre nicht schlecht. Meine Sitznachbarin hat zwei. Ob sie mir eins borgt? "Excuse me, may I borrow a book from you?", frage ich höflich. Sie antwortet in irgendeiner Sprache, die ich nicht verstehe. Ich glaube, es ist Russisch. Verdammt. Vier Stunden und kein Buch.
Drei Stunden und ich habe endlich eine Beschäftigung gefunden. Ich spiele Sims auf meinem Handy. Ein Spiel, das niemals langweilig wird.
Zwei Stunden und 20% Akku. Das Ladekabel ist in meinem Koffer. Außerdem ist das Spiel doch langweilig geworden. Die ganze Zeit die Sims beim Techtelmechtel zuzusehen wird einem irgendwann auch schon zu viel. Was mach' ich bloß in den verbleibenden zwei Stunden? Am Horizont wird es langsam hell. Ich kann schon Wolken unter uns erkennen. Ein Foto wäre nicht schlecht. Gesagt, getan. Ich wette, die Russin neben mir hätte auch gern eins. Sie stirbt gleich vor Neid. Ich kann es spüren. Werd' ich eigentlich verrückt? Ich habe noch zwei Stunden, um das herauszufinden.
Nur noch eine weitere Stunde bis zur Landung. Ich werde hibbelig. Meine Kopfhörer fangen langsam an, in meinen Ohren wehzutun. Ob's meine Mitmenschen stören würde, wenn ich meine Musik ohne sie laufen lasse? Lieber nicht, es sieht so aus, als würden drei Viertel der Leute schlafen. Ich bin neidisch, ich will auch schlafen! Ich überprüfe mein Handy, ob mir jemand eine Nachricht hinterlassen hat. Niemand? Oh, kein Empfang. Mist! Naja, kein Wunder, aber es ist sowieso nur noch höchstens eine Stunde übrig, bis ich wieder Empfang habe. Das lässt sich aushalten.
"In 15 Minuten landen wir. Bitte schnallen Sie sich an und verstauen Sie Ihr Gepäck wieder in den dafür vorgesehenen Stauräumen. Vielen Dank!", höre ich eine weibliche Stimme aus den Flugzeuglautsprechern ankündigen. Wow, ich hab's bald geschafft! Wäre lustig, wenn es eine technische Störung gäbe und wir doch erst später landen würden. Naja, im Fall der Fälle befreunde ich mich mit der Russin und verständige mich eben durch Google Übersetzer oder Gestik. Sowas in der Art. Wird schon irgendwie klappen.
"JEEEESSSSS!!!!", Sophy rennt auf mich zu und umarmt mich stürmisch. Ich liebe Umarmungen solcher Art, denn die geben einem das Gefühl, vermisst zu werden. "SOOOOOOOPHYYYYY!!!!", rufe ich zurück, obwohl die Umarmung schon vorbei ist. Ich hebe meinen Koffer auf, der aufgrund der stürmischen Begrüßung zu Boden gegangen ist. "Einen Moment!", ich krame mein Handy aus meiner Hosentasche und checke meine Nachrichten. Nichts.
"Forever Alone?", fragt Sophy. Wir hören beide eine kleine Vibration. Ich blicke sofort auf meinen Touchscreen und ziehe das Kontrollzentrum hinunter. Sims. Geil. "Ja.", antworte ich und stecke das Handy wieder weg. Sophy lacht und zieht mich Richtung Ausgang. Der Flughafen in New York schaut von innen ganz... normal aus. Doch nicht so fancy wie gedacht. "Sophy, ich habe Hunger." Mein Magen protestiert schon hörbar und ich versuche ihn so gut wie möglich zu kontrollieren.
Beim Subway schaue ich mir die Tafel an und überlege, welchen Sandwich ich mir nehmen soll und vor allem was ich als Topping drinnen haben möchte. Während ich nachdenke, fällt mir ein relativ gutaussehender Typ auf, der am dritten Tisch links hinten sitzt und gerade aus seinem Becher, höchstwahrscheinlich Cola, trinkt. Du Creep. Sophy stößt mich an. Wir sind dran.
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Zu Verschieden
Fanfiction„Ich möchte nicht, dass du gehst. Ein Jahr ist viel zu wenig für das, was wir sind.” Jessica Roth, eine gewöhnliche Studentin aus Wien, die ihr vorletztes Studienjahr in New York verbringt, lernt dort einen interessanten Mann kennen, der jedoch nich...