Harmonische Gedanken

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Der Mensch hat dreierlei Wege, klug zu handeln: Erstens durch Nachdenken, das ist der edelste; zweitens durch Nachahmen, das ist der leichteste; und drittens durch Erfahrung, das ist der bitterste."

Spruch über dem Eingang zum Dojo in Okina


Vierter Leeretag von Narziss, 126 HR

Kiyoshi saß auf der Matratze seines Bettes und blickte auf die vielen Seiten Pergament, die neben ihm ausgebreitet lagen. Jedes der Blätter war dicht mit den Schriftzeichen Kamigawas bedeckt, mit Tusche und Pinsel gezeichnete Kunstwerke, die wirkten wie kleine Beete, aus welchen das wachsende Gras feine Schatten wirft. Seine Aufzeichnungen aus den Unterweisungen durch Dekuria Amariel-sensei, die als Teil seiner Grundausbildung heute ihr Ende fanden. Er würde ab dem morgigen Tag die gesamte siebte Woche seiner Grundausbildung darüber geprüft werden, ehe er auf seine erste Patrouille gehen durfte. Als er seine Aufzeichnungen aus der zweiten Woche hervor zog, in der er zusammen mit Dekuria Amariel-sensei das Buch des Harmoniums studiert hatte, glaubte er sofort wieder, die Stimme der Adjutantin seines ehrenwerten Bundmeisters zu vernehmen.

Die ursprüngliche Version soll der Gelehrte Jhary von Heka verfasst haben, der auch zur ersten Oktade des Harmoniums gehörte. Selbst bis heute wird das Buch von den Weisen Orthos immer wieder erweitert und teilweise auch an die bestehenden Verhältnisse angepasst. Es erklärt das höchste Ziel des Harmoniums, nämlich dem gesamten Multiversum Frieden durch Harmonie zu bringen. Wenn erst einmal jeder den Grundsätzen des Harmoniums folgt, sind sich alle einig und es gibt keinen Grund mehr für Disharmonie oder Unfrieden", hatte die blonde Frau erklärt, als sie das dicke Buch vor ihn gelegt hatte. „Beginnt doch einmal, es zu lesen."

Kiyoshi hatte genickt, den in rotes Leder gebundenen Deckel des Buches aufgeschlagen und mit den ersten Worten begonnen: „Das Multiversum hat immer jemanden wie uns gebraucht."

Kiyoshi studierte seine Aufzeichnungen und als er an eine bestimmte Stelle kam, erinnerte er sich daran, wie Dekuria Amariel-sensei ihn das erste Mal dazu aufgefordert hatte, seine Gedanken zu dem Buch zu äußern. Es war bei der Pax Benevola gewesen, den zehn Gesetzen, die von den rechtschaffen guten Göttern niedergelegt worden waren, als Grundlage für moralisches Handeln.

Kiyoshi hatte eine weitere Seite im Buch des Harmoniums umgeblättert und ein wenig gelesen. Plötzlich hatte er gestutzt und nicht weiter geschrieben.

Ist etwas, Soldat?"

Kiyoshi hatte aufgeblickt und gezögert, ehe er gesprochen hatte. „Verzeiht meine Unwissenheit, Dekuria Amariel-sensei, aber ich verstehe einen dieser Absätze hier nicht."

Davor war sie von Bundmeister Sarin schon gewarnt worden, dass Kiyoshi auf gar keinen Fall etwas anzweifeln oder in Frage stellen, sondern stattdessen immer so tun würde, als würde er etwas nicht verstehen. Mit einer engelsgleichen Ruhe fragte sie ihn also: „Was genau versteht Ihr nicht, Soldat?"

Hier steht, dass wir nicht die Reinheit Orthos beflecken sollen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Gebot in seiner Gesamtheit verstehe. Denn ich bin mir nicht sicher, wie eine einzelne Person die Reinheit einer ganzen Welt beflecken soll, wenn sie diese Welt noch nicht einmal gesehen hat. Könnt Ihr mir diese Regel genauer darlegen, Dekuria Amariel-sensei?"

Sie hatte geschmunzelt und geantwortet: „Ah ja. Die Auslegung dieses Gesetzes ist allerdings ein wenig umstritten, nicht nur zwischen dem planaren und dem materiellen Flügel des Harmoniums, sondern auch innerhalb des planaren Flügels. Es gibt hier gemäßigtere und sehr strenge Auslegungen dieser Regel. Laut der strengen Regeln kann dies schon gesehen, wenn man negativ über die Heimatwelt des Harmoniums spricht, oder wenn man sich zum Beispiel mit Halbelfen abgibt, wie dieser Lady Elanie Lanthania, von der Ihr mir erzählt habt, unabhängig davon, wie sich diese Wesen selbst verhalten. Auch mir oder meinem Bruder, einem Legaten des Harmoniums, würden sie misstrauen, einfach aufgrund unserer Herkunft. Bundmeister Sarin ist hier anderer Auffassung, auch wenn er es nicht gutheißt, wenn jemand die Heimatwelt unnötig kritisiert. Auch ist er der Meinung, dass das Handeln und Denken einer Person im Hier und Jetzt wichtiger ist, als etwas, das vor dem Eintritt ins Harmonium geschehen ist, oder gar, was die Vorfahren der Person einmal getan haben."

Kiyoshi hatte aufgeblickt und kaum fassen können, was er da gehört hatte.

Kiyoshi blätterte weiter in seinen Unterlagen und trennte den Stapel, als die Aufzeichnungen der zweiten Woche endeten und die der dritten Woche begannen, über die Gesetze Sigils sowie den Umgang mit Kriminellen. Die obersten Gesetze hatte er sich dick markiert. Die Anbetung der Dame der Schmerzen und des von ihr vernichteten Gottes Aoskar, der ein Gott der Portale gewesen war, sowie Gewalt gegen die Diener der Dame, die Dabus. Dies alles schien den Zorn der Dame zu wecken, was häufig zu einem Verlust vieler Leben führte und deshalb mit einer sofortigen Hinrichtung zu ahnden war, die sogar vom Harmonium selbst vollstreckt werden durfte, sogar ohne eine Anhörung vor einem Gericht. Dies war insofern eine Besonderheit, weil sonst die Strafen durch den Bund der Gnadentöter durchgeführt wurden, und zwar erst nach einer Verurteilung durch die Bruderschaft der Ordnung, wie bei öffentlicher Gewalt, Anarchie oder der Manipulation und Zerstörung von Portalen. Insgesamt waren die Gesetze Sigils vielfältig, komplex und von Ausnahmen, Sonderfällen und Präzedenzfällen derartig durchzogen, dass Kiyoshi froh war, dass es immer noch die Möglichkeit gab, jemanden wegen Widerstands gegen das Harmonium zu verhaften, falls sich diese Person der Verhaftung widersetzte. Er legte seine Unterlagen beiseite und ging sich erst einmal eine gute Tasse Tee machen. Während er das Wasser erhitzte, um die Kukicha Blätter in dem Kyusu, der tönernen Kanne, zu übergießen, dachte er über die vierte Woche nach, in der man ihn mit den Straßen und Bezirken Sigils bekannt gemacht hatte, die für ihn problematischste Woche. Er warf einen Blick auf die Karte und schauderte. Der Irrgarten, den Sigil für ihn darstellte, war für ihn noch unübersichtlicher als die Gesetze der Stadt oder die Verbindungen zwischen den vierzehn Bünden. Fünfzehn, wenn man die Anarchisten mit dazu zählte. Und auch über diese würde er in der kommenden Woche Rechenschaft ablegen müssen. Mit einem Seufzen nahm er die Kukicha Blätter aus dem Kyusu und füllte stattdessen Gyokuro Blätter hinein. Dies würde eine lange Nacht des Studierens werden und dabei würde er jede Hilfe brauchen, um wach zu bleiben.


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Dieses Kapitel wurde von Kiyoshis Spieler verfasst.


Die Schatten von Sigil - Der Deva-FunkeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt