Also, er steht stumm da und schaut mich an. Mit großen, weiten Augen, hoch erwartungsvoll. Ich verstehe immer noch nicht, was er von mir will – schon oft habe ich versucht ihn zu den anderen Kindern zu drängen, aber der Siebenjährige bleibt einfach stehen – denn bisher werden die Kinder immer von dem bunten, jedoch kaputten Spielzeug angezogen. Ich weiß nicht wirklich, was er jetzt erwartet.
Ich erkläre ihm mit deutlich, klaren Worten, dass er von nun an mit dem Namen Espen anzusprechen ist und die Nummer 74 besitzt. Er legt den Kopf schief als wollte er mich was fragen. Ich gebe auf und zeige nur auf die netter Betreuerin Agnes, die gerade Frühstück machte, in der Hoffnung, er würde mich endlich in Ruhe lassen. Ich glaube, er kann schon den Duft des Frühstücks wahrnehmen.
Mir muss wohl wegen der letzten Nacht viel Schlaf geraubt worden sein, denn ich schubse ihn nur in die Richtung des Tisches, um ihn endlich mal loszukriegen, um ihn dazu zu bringen, endlich mal etwas seit seiner Ankunft zuzunehmen.
Fürs Frühstück setzen sich die Kinder um einen Tisch, kein neuer moderner, genauso grau und alt wie der Rest der Klinik, und essen so schnell wie möglich das Geschirr leer, um dann weiter mit den Wachsmalstiften zu kritzeln oder weiterhin in die Ecken zu starren, um die weißen, herausstechenden Augen ausfindig zu machen.
Im Gegenteil zu meinem trockenem Stück Toast und einem lauwarmen Kaffee, bekommen die Kinder zumindest genug, um bis zum Mittagessen nicht quengelig zu werden. Meistens eine Art Brei, manchmal belegten Toast oder Obst und Gemüse. Manchmal zu bestimmten Anlässen, wie zum Beispiel Ostersonntag oder andere Feiertage, wird ihnen auch mal einen Teller nach Tradition aus Kohl und Lamm angeboten.
Reich würde ich unsere kleine Praxis nicht nennen. Das letzte Mal, das wir Spenden eingenommen hatten, war jetzt schon Monate her. Die Kleidung, die die Kinder in der Klinik deswegen tragen müssen, war einfach nur weiß, eine knielange Hose und ein Shirt. Aber das Geld war nicht direkt die Schuld dafür. Ich wähle die Farbe in der Hoffnung, dass die Kinder sie als „positiv" wahrnehmen würden und ihre Mitmenschen nicht als blutrünstige Schattenmonster sehen. Ob das wirkt, kann ich aus meiner Sicht nicht spekulieren.
Ich kehre zurück zur Aula, um mir eine Milchtüte mitzunehmen, damit ich den Kaffeeautomat nachfüllen kann – das einzige „Hightech", das es so wirklich in unserer Gemeinschaft gibt. Die Kinder sind schon alle weg vom Tisch, nur noch leere Gläser und dreckige Teller zu sehen. Jedoch, ein neu hinzugestellter Stuhl ist immer noch ordentlich unterm Tisch stehen geblieben. Bei diesem Platz steht ein unbenutztes Glas, aber kein Teller. Der Suppenlöffel ist auch verschwunden. Auch als ich nach draußen in den Gang schaue, anderes als den Lichtschein der Lampen, der um die Ecke lurkt, und das leise Geräusch von summenden Monitoren kann man nicht vernehmen.
Nachdem ich Agnesgefragt habe, wo dieses bestimmte Kind abgeblieben sei, gehe ich in die entgegengesetzte Richtung, die vom Betreuungsraum wegführt, geradewegs zu einem dunklen, unwichtigen Raum. Wir benutzen diese dunkle Umgebung eigentlich nur um unwichtige Sachen abzustellen, alte Schreibmaschinen, kaputte Monitore und anderes Zeug, bei dem niemand mehr wirklich nur einen Finger darauflegen würde. Die einzige permanente Lichtquelle, die es dort gibt, ist ein breites Fenster, das vom Boden bis zur Decke reicht. Und genau dort sitzt ein Jemand, der sich von der Gruppe der anderen Kinder ausgeschlossen hat und jetzt allein in der Ecke hockt, ganz nahe beim Fenster und seine Suppe löffelt.
Bewölkt und dem Regen zumute, sieht es draußen aus. Espen sitzt da, mit den Beinen nahe zum Körper gezogen, in der hellen Kleidung wie ein weißer Klecks in der Dunkelheit, und starrt aus dem Fenster, als würde er draußen am Horizont etwas mit den Augen verfolgen. Zuerst stehe ich einen Moment lang da und warte, ob er mich bemerken würde. Langsam gehe ich an ihn heran. Jetzt erst dreht er seinen Kopf rasch zu mir um, aber sitzt immer noch still da. Ich bemerke, dass neben ihm ein paar Bücher liegen. Unter dem dicken Bilderbuch der Raupe Nimmersatt liegt ein kleineres, verdrecktes Taschenbuch, dessen Einband schon gelb gebleicht war. „Das lustige Taschenbuch" kann man auf dem Cover noch schwer lesen. Der Junge hat sich anscheinend hier hinten im Lagerraum ein kleines Versteck gemacht, in dem er jetzt sitzt, so weit weg wie möglich in dieser Klinik von den anderen Kindern. Einen so selbstständigen, kleinen Patienten hatte ich bisher noch nicht in Obhut gehabt.
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Die Traum Seuche - Februar, 2002.
Mystery / ThrillerAlbträume, Paranoia, Stress und negative Gedanken. Alltägliches. Könnten sie uns womöglich schaden? Wäre es nicht fragwürdig, wenn der Schatten aus der Ecke aufsteht und dich mit leeren Augen anglotzt? Vielleicht sogar versucht, nach dir zu greifen...