Prolog

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Die Nacht war stumm und lastete schwer auf dem Haus. Nur das Ticken der alten Standuhr hallte durch die leeren Räume, begleitet vom leisen Rauschen der Bäume draußen, die sich im Wind wiegten, als wollten sie etwas vor sich selbst verbergen. Ich saß im Dunkeln auf meinem Bett, umgeben von Stille, doch meine Gedanken liefen wild. Ich hatte dieses Gefühl, seit Tagen schon – ein Kribbeln tief unter der Haut, als würde etwas nach mir greifen, unsichtbar und doch unübersehbar.

Meine Großmutter hatte es das „Zwischenreich" genannt, diesen Ort, an dem Seelen wanderten, gefangen zwischen den Welten. Ein Ort, in den man nur gelangte, wenn man die Grenze der Wirklichkeit hinter sich ließ. Ich wusste, dass ich nicht allein war, dass das, was ich in der Dunkelheit spürte, kein Produkt meiner Fantasie war. Das Haus selbst schien zu atmen, die Wände leise zu flüstern, und irgendwo dazwischen war eine Stimme, tief, voller Schmerz, verborgen hinter Worten, die ich noch nicht hören konnte.

Ich wagte kaum zu blinzeln, als ich es erneut spürte: eine Kälte, die wie eine Welle durch den Raum rollte und meinen Atem gefrieren ließ. Ich war es gewohnt, Schatten zu sehen, das leise Flüstern der Geister zu hören, die meine Großmutter zu mir geführt hatte, doch das hier war anders. Intensiver. Es war, als würde die Dunkelheit selbst um mich herum lebendig werden, als würde etwas aus dem Nichts heraus zu mir sprechen.

Plötzlich formte sich die Dunkelheit vor mir zu einer Gestalt. Schemenhaft, kaum mehr als ein Schatten, aber die Augen... die Augen brannten kalt und leer, wie glitzerndes Eis in der Nacht. Ich konnte mich nicht rühren, als die Gestalt näher kam. Die Luft um mich herum war eisig, durchzogen von einem unheimlichen Flüstern, das nur für mich bestimmt zu sein schien.

„Livia..." Die Stimme war rau und dennoch sanft, sie klang, als wäre sie schon seit Jahrhunderten nicht mehr gehört worden. Der Klang meines Namens, geflüstert von diesem Schatten, durchdrang mich, wie ein langer, spitzer Dorn. Mein Körper schrie nach Bewegung, nach Flucht, doch meine Beine blieben wie angewurzelt.

„James", flüsterte ich,  ohne zu wissen, woher ich den Namen nahm. Und mit diesem Namen kam die Flut von Bildern, als wäre ein Schleier aus einer verborgenen Erinnerung gerissen worden: Bruchstücke einer Geschichte voller Dunkelheit und Leid, voller verlorener Seelen und verschwiegener Schreie. Der Geist – James – stand nun so nah vor mir, dass ich jede Einzelheit erkennen konnte. Die Schatten, die sich wie Rauch um ihn bewegten, die leeren Augen, die sie fixierten, voller Trauer und etwas, das ich nicht benennen konnte. Ich fühlte seine Geschichte, ein schmerzvolles Echo in meinem Inneren.

In diesem Moment wusste ich, dass ich keine Wahl hatte. James war nicht einfach nur ein Geist – er war ein Ruf, ein düsteres Vermächtnis, das sich in meine Seele eingebrannt hatte und mich nun in eine Welt zog, die düsterer war als alles, was ich je gekannt hatte.

In The ShadowWo Geschichten leben. Entdecke jetzt