Kapitel.1

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Es war ein gewöhnlicher, grauer Herbstmorgen. Nebel kroch wie ein alter Mantel über die Wiesen und ließ das Haus meiner Großmutter wie aus einer anderen Zeit wirken – ein altes, gedrungenes Gebäude mit abblätternder Farbe, verwitterten Fensterläden und einem knarrenden Holztor, das bei jedem Windhauch leise quietschte.

Ich ging barfuß durch die langen, kalten Flure und lauschte den Geräuschen des Hauses. Es war immer so still hier, so drückend still, dass selbst mein leises Atmen wie ein Echo durch die Zimmer hallte. Jeden Morgen, seit ich bei Oma wohnte, hatte ich das Gefühl, dass das Haus mich beobachtete. Es war, als würde es über mir schweben, mich umschließen und mit einem eigenen, stillen Bewusstsein beobachten.

„Livia, komm runter zum Frühstück!" Die Stimme meiner Großmutter durchbrach die Stille, und ich konnte das Rasseln von Geschirr aus der Küche hören. Ich schnappte mir meinen alten Pullover, der auf der Kommode lag, und machte mich auf den Weg nach unten. Der Treppenabsatz knarrte unter jedem meiner Schritte, als wolle das Haus sicherstellen, dass jeder meiner Schritte zu hören war.

Meine Großmutter Rosalie saß am Küchentisch, umgeben von dampfenden Kaffeetassen und einem Stapel alter, vergilbter Bücher. Sie trug wie immer ihren abgenutzten, grauen Morgenmantel und ihre Haare, die silbern und dicht waren, schienen im schwachen Licht zu schimmern. Sie sah auf, als ich die Küche betrat, und lächelte ein wenig.

„Hast du gut geschlafen?" fragte sie, während sie eine Tasse in meine Richtung schob. Ich nickte, obwohl es nur die halbe Wahrheit war. Schlaf und ich hatten seit Monaten ein schwieriges Verhältnis. Seit dem Unfall meiner Eltern, seit dem Tag, an dem ich in dieses Haus kam, fühlte es sich an, als würde ich in einer Art Schwebezustand leben. Die Realität war hier anders – das Haus lebte, atmete, und irgendetwas daran fühlte sich fremd und doch vertraut an.

„Das Haus ist noch immer ein wenig... eigenwillig für dich, nicht wahr?" Rosalie sah mich aufmerksam an, während sie den warmen Tee in ihrer Tasse umrührte. Ihre Augen hatten diesen durchdringenden Blick, den sie immer hatte, wenn sie spürte, dass jemand etwas verschwieg – etwas, das sie längst wusste.

„Es knarrt und knackt die ganze Zeit," antwortete ich und versuchte, das Thema so beiläufig wie möglich zu halten. „Und manchmal hört es sich so an, als würde jemand im Flur herumlaufen, obwohl... da niemand ist."

Meine Großmutter nickte langsam, ohne den Blick von mir abzuwenden. „Nun, dieses Haus hat schon viele erlebt," murmelte sie und griff nach einem der alten Bücher vor ihr. „Es hat eine Seele, Livia. Jedes alte Haus hat eine, und manche... halten Erinnerungen fest. Manchmal mehr, als man vermutet."

Ich schwieg, ließ ihren Satz auf mich wirken. Sie sprach oft von Geistern und Geschichten, die in diesem Haus lebten, als wären sie alte Bekannte. Meine Eltern hatten nie viel darüber gesprochen, dass meine Großmutter ein Medium war, aber sie war seit jeher als „die seltsame Rosalie" bekannt gewesen. Und nun lebte ich hier, in ihrem Haus, umgeben von alten Möbeln, vergilbten Bildern und Büchern, die so schwer waren, dass man sie kaum heben konnte.

Ich nippte an meiner Tasse und beobachtete, wie der Nebel draußen dichter wurde, das Licht gedämpft und die Welt außerhalb des Fensters fast verschwunden schien. Es fühlte sich an, als sei ich in eine Art Zeitblase geraten, als würde das Haus mich in einer Welt festhalten, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart schwebte.

Seit meine Eltern gestorben waren, hatte ich oft das Gefühl, dass ich selbst ein Geist war – jemand, der halb durchsichtig durch die Tage glitt und in dieser alten, stillen Welt festhing, die mir so wenig vertraut war. Das Haus meiner Großmutter war kein Ort für Kinder, das wusste ich, aber irgendwo tief in mir spürte ich, dass es mich trotzdem nicht loslassen wollte.

Nach dem Frühstück streifte ich durch das Haus, das in jeder Ecke Geschichten zu verstecken schien. Es gab Räume, die meine Großmutter kaum nutzte und die sich anfühlten, als hätte sie dort jahrzehntelang kein Licht zugelassen. Das Wohnzimmer war vollgestopft mit Möbeln, die eher wie Museumsstücke wirkten, und an den Wänden hingen schwere, verblasste Gemälde von Menschen, die mich mit düsteren Blicken ansahen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann oder woher ich dieses beklemmende Gefühl hatte, aber immer wenn ich an einem dieser alten Portraits vorbeiging, schien es, als folgten mir die Augen aus dem Rahmen.

In einer Ecke des Wohnzimmers stand ein großer, antiker Spiegel, dessen Oberfläche so alt und fleckig war, dass er kaum noch spiegelte. Er hatte eine massive, verzierte Fassung und strahlte eine unheimliche Anziehungskraft aus, die mich magisch anzog und zugleich zurückschreckte. Meine Großmutter hatte mir einmal gesagt, dass Spiegel in alten Häusern Portale seien, dass sie alles spiegelten, was jemals davor stand, und manchmal mehr zeigten als nur das Hier und Jetzt.

Manchmal glaubte ich, dass meine Eltern irgendwo dort waren – nicht nur im Spiegel, sondern in jedem Staubkorn, in jeder knarrenden Diele und in jedem Schatten. Manchmal wünschte ich, ich könnte einfach das Haus verlassen, diesem alten, düsteren Ort entkommen und irgendwo hingehen, wo es weniger bedrückend war. Aber meine Großmutter war nun mal die einzige Familie, die ich noch hatte.

Mit einem tiefen Atemzug riss ich mich von dem Anblick des Spiegels los und ging weiter die Treppe hinauf, in Richtung meines Zimmers. Die Stufen knarrten unter meinen Schritten, und während ich langsam Stufe für Stufe erklomm, kam mir ein seltsames Gefühl von Déjà-vu hoch – als wäre ich diesen Weg schon unzählige Male gegangen, obwohl ich erst seit ein paar Monaten hier lebte.

Mein Zimmer lag am Ende des Flurs im Obergeschoss, direkt unter dem Dach. Es war klein und spartanisch eingerichtet, und der muffige Geruch alter Tapeten hing in der Luft. Doch die Aussicht aus dem Fenster war faszinierend: Von hier konnte ich den gesamten Garten sehen, der sich wie ein dunkler Teppich in der Ferne erstreckte. Überall standen verfallene Statuen und steinerne Figuren, deren Gesichter von Moos bedeckt waren, und das wilde Gras wuchs so hoch, dass man kaum die Wege erkennen konnte. Ich hatte es noch nie geschafft, mich durch den Garten zu wagen. Irgendetwas hielt mich jedes Mal davon ab, als wäre der Garten selbst ein unerwünschter Ort für jemanden wie mich.

Ich ließ mich auf das Bett sinken und starrte an die Decke, lauschte dem leisen Rauschen des Windes, der um die alten Mauern des Hauses wehte. Hin und wieder hörte ich ein leises Klopfen aus den Wänden, ein gleichmäßiges Pochen, das ich zuerst für die Rohre gehalten hatte – bis ich irgendwann bemerkte, dass das Geräusch nur in meinem Zimmer und immer zur gleichen Zeit auftrat. Heute war es wieder da. Ein gedämpftes, langsames Klopfen, das wie ein Herzschlag durch die Stille des Raumes hallte.

„Oma?" rief ich, doch es kam keine Antwort. Ich wusste, dass sie irgendwo im Haus war, wahrscheinlich unten in ihrem kleinen Raum, den sie „das Kabinett" nannte und der mit seltsamen Dingen gefüllt war, die sie von ihren Reisen und Ritualen gesammelt hatte. Dort hatte ich sie manchmal gesehen, wie sie vor Kerzen saß und alte Gebetsbücher las, oder wie sie vor einer leeren, staubigen Glasflasche murmelte. Oma Rosalie hatte mir oft genug gesagt, dass das Haus selbst ein lebendiges Wesen sei und dass ich lernen müsse, seine Zeichen zu lesen.

Vielleicht hatte sie recht, dachte ich und lauschte dem Klopfen, das wie eine stille Sprache in meinem Kopf widerhallte.

In The ShadowWo Geschichten leben. Entdecke jetzt