An diesem Nachmittag wurde mir klar, dass die Welt meiner Großmutter tiefer und fremder war, als ich es mir je vorgestellt hatte. Sie saß am Küchentisch, eine dampfende Tasse Tee in den Händen, das Gesicht vom warmen Licht der späten Nachmittagssonne beleuchtet. Auf dem Tisch lag eine Karteikarte mit ihrer eleganten Handschrift, darauf stand nur ein Name, wie eine Erinnerung an jemanden, der längst gegangen war.
„Wer ist das?" fragte ich und zeigte auf die Karteikarte.
Rosalie lächelte, ein seltsames, geheimnisvolles Lächeln. „Eine alte Freundin", sagte sie, als würde diese Erklärung alles klären. Aber ich wusste, dass es nie nur einfach war, wenn es um meine Großmutter ging. Ich hatte sie schon oft im Haus sprechen hören, so leise, dass es kaum mehr als ein Flüstern war. Ein Flüstern, das manchmal direkt aus den Wänden zu kommen schien.
„Sie ist nicht wirklich weg, weißt du", fügte sie nach einer langen Pause hinzu. „Die Geister, die uns besuchen, sind oft Menschen, die eine Geschichte hinterlassen haben. Manchmal suchen sie nur jemanden, der sie hört. Und manchmal sind sie hier, weil sie etwas zurücklassen mussten."
Ich setzte mich und hörte schweigend zu, wie sie mit ihrer sanften, rauchigen Stimme von alten Zeiten erzählte. Geschichten, die ich niemals erwartet hatte, Geschichten, die sich wie Erinnerungen anhörten, die tief in den Mauern des Hauses lebten. Rosalie war schon immer eine einsame Seele gewesen, auch als sie jung war, erzählte sie mir. Ihr Leben hatte mehr mit jenen anderen Welten zu tun, mit den Stimmen und Schatten, die niemand sehen konnte – niemand außer ihr.
„Seit ich ein Kind war, wusste ich, dass es mehr gibt als das, was wir sehen", sagte sie und blickte mich eindringlich an. „Deine Urgroßmutter war ebenfalls ein Medium, eine Frau, die die Grenzen zwischen den Welten durchschreiten konnte, und es wurde an mich weitergegeben. Es ist ein Fluch und ein Geschenk, Livia. Manchmal hat es mich vor Dingen bewahrt, die andere nicht verstehen könnten. Aber oft..." Sie hielt inne, die Worte blieben in ihrem Hals stecken, als würde sie etwas Verschüttetes wieder aufleben lassen.
„Oft hat es dich verfolgt?", fragte ich leise.
Sie nickte und schloss die Augen, als ob sie einen Schatten abschütteln wollte. „Ja. Es gibt Geister, die nicht gehen wollen. Manche sind ruhelos, manche sind... wütend." Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern, und ich konnte das kalte Zittern in ihrem Tonfall hören. „Ich habe Menschen kennengelernt, die vor Jahren verstorben sind, aber immer noch hier verweilen. Diejenigen, die verloren gingen und niemals einen Platz zum Ruhen fanden. Es gibt Orte, an denen die Erinnerungen an den Tod hängen wie Nebel, der sich nicht vertreiben lässt."
Ich lauschte ihren Worten, versank in den Bildern, die sie heraufbeschwor, während das Haus uns umgab, als würde es ebenfalls zuhören. Ich konnte mir vorstellen, wie sie als junges Mädchen durch diese alten, dunklen Räume ging, ihre Augen voller Neugier und doch wachsam, die Schatten beobachtend.
„Als ich das erste Mal einem Geist begegnete, war ich etwa so alt wie du", fuhr sie fort. „Ich war in meinem Zimmer und hörte ein leises Klopfen. Es war nichts weiter als ein schwaches Pochen, fast wie ein Herzschlag. Ich dachte zuerst, es sei nur der alte Heizkörper, der Geräusche machte. Aber dann wurde es lauter, eindringlicher, und ich konnte nicht anders, als dem Klang zu folgen. Er führte mich in die alte Kammer im Westflügel, die damals noch versperrt war."
„Und du bist hineingegangen?"
Sie lächelte schwach. „Natürlich. Es war wie ein Sog, etwas Unerklärliches. Ich öffnete die Tür und sah nichts – nur Schatten und das fahle Licht der Straßenlaternen, das durch die Fenster fiel. Aber ich wusste, dass da jemand war. Es war eine Frau, ganz in Weiß, und sie stand einfach da, still und verloren. Sie sah mich an, mit Augen, die wie leere Brunnen waren, und ich wusste, dass sie etwas zu sagen hatte. Ihre Stimme war nur ein Flüstern, doch ich hörte jedes Wort: 'Hilf mir.' Sie erzählte mir ihre Geschichte in Stücken, in Rätseln, die ich erst nach und nach verstand."
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In The Shadow
SpiritualDie 17-jährige Livia ist anders als andere Jugendliche. Schon immer hat sie eine starke Faszination für das Mystische, für die verborgenen Welten zwischen Jenseits und Erde. Ihre Großmutter ist ein Medium, das verstorbene Seelen beschwören kann und...