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Harry

Ich musste raus. In meiner Kehle machte sich ein eingeengtes Gefühl breit und es war, als würden die Wände auf mich zukommen.

Seit zwei Wochen hatte ich endlich Urlaub. Nach einer langen Tour war ich einfach völlig ausgelaugt. Es war nicht so, als würde es mir keinen Spaß machen. Himmel, nein. Ich liebte meinen Job so sehr und sah es als Privileg, vor so vielen Menschen meine Musik zu spielen und meiner Leidenschaft nachzugehen. Das war bei Weitem nicht selbstverständlich. Wenn ich daran dachte, wie viele Menschen sich verbiegen mussten, um einen Beruf auszuüben, in dem sie vielleicht nicht einmal glücklich waren… Da schauderte es mir und mir wurde bewusst, wie gut ich es hatte.

Doch obwohl ich meinen langverdienten Urlaub angetreten hatte, klingelte fast ununterbrochen mein Telefon. Die erste Zeit hatte ich es über mich ergehen lassen, doch als sie merkten, dass ich auf ihr Bitten ansprang, riss ich die Notleine.

Ich hatte Urlaub, verdammt. Da wollte ich ausnahmsweise mal keine Interviewanfragen annehmen oder bei Events auftauchen, weil es gut für meine PR wäre, nach der Tour weiterhin im Augenmerk der Presse zu stehen.

Aber war ein Urlaub nicht dazu da, um genau das eben nicht zu müssen?

Zum wiederholten Mal drückte ich den Anruf von Jeff, meinem Manager, weg. Er hatte mir versprochen, mich über die Feiertage in Ruhe zu lassen, damit ich Zeit für mich und meine Familie hatte. Trotzdem rief er mich an. Wäre es etwas wirklich Wichtiges, würde er vorbeikommen, um das persönlich mit mir zu besprechen. Vermutlich wollte er mich nur wieder zu einem Interview überreden.

Heute Abend würde ich eine neue Single herausbringen, quasi als Hommage an die Tour, die ich gemacht hatte. Eigentlich sollte diese erst im Januar erscheinen, doch das Management bestand auf einen vorgezogenen Termin.

Dass ich mich dazu bereiterklärte, heute Abend ins Studio zu meinem Kumpel James zu fahren, um in einem Live-Interview den neuen Song anzukündigen, hatte Jeff schon einiges an Überredenskunst gekostet. Wir hatten uns darauf geeinigt, doch ich sah es nicht ein, meinen Urlaub mit Interviews und Presseauftritten zu unterbrechen. Ich war flexibel und geduldig, aber irgendwann war auch zu viel des Guten.

Immerhin verpasste ich durch den heutigen Auftritt einen Weihnachtsfilm, den ich unbedingt mit einer Decke und einem Kakao auf meiner Couch ansehen wollte, um endlich in Weihnachtsstimmung zu kommen.

Das erneute Klingeln meines Handys ließ mich aufseufzen. Ich stellte den Klingelton aus und warf es ans andere Ende des Sofas. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich noch etwa drei Stunden Zeit hatte, bis ich von einem Fahrer abgeholt wurde.

Ich stellte den Fernseher aus, stand auf und wechselte meine gemütlichen Klamotten gegen Sportkleidung. Mein Entschluss, noch Laufen zu gehen, um den Kopf frei zu bekommen, stand fest. Ich schlüpfte in meine Laufschuhe und zog mir eine etwas dickere Laufjacke an. Dazu Schal und Mütze, um einigermaßen unerkannt zu bleiben.

Zwar waren meine Fans diskret, was ein Treffen in der Öffentlichkeit anging – es kam selten vor, dass ich von Menschenmengen umzingelt war -, aber ich wollte nichts riskieren. Ein Foto mit mir war kein seltenes Weihnachtsgeschenk, auch wenn diese Begegnungen zumeist ruhig abliefen. Bei meiner jetzigen Gemütslage hatte ich da ehrlicherweise nicht zu viel Lust zu.

Also setzte ich meine Kopfhörer auf und schaltete die Musik auf meinem IPod an. Während des Laufens Musik zu hören, half mir schon immer, meine Gedanken und Gefühle zu sortieren und mich zu erden.

Ohne wirklich darauf zu achten, wohin ich lief, joggte ich in lockerem Tempo durch die Straßen Londons. Der Schneefall hatte etwas nachgelassen, sodass ich gut sehen konnte. Nur vereinzelt fielen weiße Flocken aus den Wolken und segelten wie in Zeitlupe auf die Erde hinab. Der Bürgersteig unter meinen Füßen war geräumt und zum Glück nicht rutschig.

If I Could Fly (Larrys Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt