Kapitel 1

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Evelyn

Das Licht begann zu blinken. Der schrille Alarm setzte ebenfalls kurz danach ein. Megan und ich starrten uns an. Fuck.
,,Kümmerst du dich um null fünf?"
Sie saß immer noch auf ihrem Stuhl. Bis jetzt war es eine ruhige Nachtschicht gewesen, eigentlich zu ruhig für einen Montag. ,,Die Kratzbürste?", fragte ich und stützte mich auf dem Tisch ab. Natürlich wusste ich wer in null fünf lag, jeder wusste es.
,,Ja, bitte geh du Eve. Ich musste gestern schon da rein, ich dachte er kratzt mir gleich die Augen aus!", bettelte Megan. Sie rutschte auf ihrem Stuhl herum, verzog dabei das Gesicht zu einer schmollenden Fratze. Nicht sehr angemessen für eine Frau in den Zwanzigern. Wollte ich mir das wirklich antun? Eigentlich nicht. Doch es musste eine von uns gehen, schließlich konnten wir ihn dort drinnen nicht sterben lassen. Auch wenn es für die gesamte Belegschaft ein Segen gewesen wäre. Da brachte Megan -für sich- plötzlich ein großes Opfer. Sie griff in die Tasche ihres Kittels und legte den Inhalt vor uns auf den Tisch. Ein Pick-up. ,, Meine letzte Nervennahrung für diese Nacht. Du bekommst es, wenn du in null fünf gehst." Ich seufzte. Als ich den Gang hinab lief, hielt ich das Pick-up immer noch in meinen Händen. Das gelbe Plastik raschelte leise zwischen meinen Händen und durchbrach die Stille, die im Flur lag. Wie ein unsichtbarer Schleier hing sie in der Luft. Man hatte das Gefühl, dass man förmlich nach ihr Greifen konnte. Früher als ich noch klein war, hasste ich Krankenhäuser. Sie waren für mich das Wartezimmer des Sensenmanns. Mein acht jähriges ich, würde wahrscheinlich hinter der nächsten Ecke mit einem Messer warten, wenn es erfahren würde, dass ich in einem Krankenhaus arbeitete. Doch mittlerweile mochte ich es durch die Flure im Schein der Lampen zu laufen. Dem Tod so nah und andererseits wieder so fern zu sein. Manchmal spürte man ihn in den Zimmern. Er stand hinter den Patienten, legte ihnen eine Hand auf die Schulter und schwieg. Er tauchte alles in einen kalten Winter, aber es war keine dieser Bilderbuch Landschaften. Nein. Es war einer dieser Tage, an dem man nicht wusste wie lange der Himmel schon grau war und man sich fragte wie die Sonne aussah, wie sie sich auf der Haut anfühlte und wann die Kälte, die den Boden mit zarten Rissen wie bei einer gesprungenen Eierschale versah, vorbei war. Aber eins lernte man hier über den Tod: Er war friedlich. Eine Erlösung. Das Ende einer langen Reise. Ich stand vor dem Zimmer null fünf. Tief atmete ich ein und sammelte all mein Wissen, das ich über unausstehliche Patienten in den letzten Jahren gelernt hatte. Das Pick-up hielt ich immer noch in meinen Händen. Das gelbe Plastik war mittlerweile völlig zerknittert. Auf dem Weg hierher hatte ich es immer wieder durchgeknetet. War ich etwa nervös? Quatsch. Hastig stopfte ich es in meine Kitteltasche und klopfte an die Tür. Nun hieß es Lächeln und nicht Handgreiflich werden. ,,Was ist los Mr. Cort? Sie haben geklingelt?", presste ich so freundlich, dass ich mich fast schon vor mir selbst erschreckte hervor. Mr. Cort saß aufgerichtet im Bett. Das Licht seiner Nachttischlampe angeknipst. Sogar im Halbdunkel erkannte man seine tiefen Augenringe. Generell ähnelte seiner Gesichtsfarbe die eines Blattpapiers. War sein Blutdruck wieder im Keller? Sollte ich Blutdruck messen? Vielleicht einen Arzt hinzuziehen? Ruhig Eve. Alles ist in Ordnung. Die Kratzbürste hat noch nicht einmal etwas gesagt und du drehst hier fast durch. Die Kratzbürste-so nannte die Schwesternschaft das größte Arschloch der Station K21- war Nate Cort. Seit exakt zwei Monaten und drei Tagen beglückwünschte er uns mit seinen Launen. Er sah verdammt noch einmal scheiß geil aus. Sogar mit dunklen Augenringen, einer Gesichtsfarbe, die das neue weiß werden könnte und einer zehn Zentimeter Narbe im Gesicht. Nate Cort hatte aber wirklich einen Schutzengel gehabt, der seine Arbeit ernst nahm. Seine Verletzungen waren fast ein Witz gewesen bei seinem Leichtsinn einfach auf einen Zug...Die Kratzbürste riss mich aus meinen Gedanken, was wahrscheinlich besser war. ,,Sie werden auch immer langsamer. Wenn sie an Übermüdung leiden, ich kann Ihnen guten Stoff besorgen, der wird sie die ganze Nacht wach halten." Mit einem schiefen Lächeln -es war so verdammt gut aussehenden wie Nate- versuchte er sein Argument zu untermalen. O Gott. Wir brauchten einen Arzt, sofort! Nate Cort, Mr. Miesepeter 2015, lächelte. Ich glaubte, so etwas hatte hier noch keiner gesehen. Er musste Gehirnblutungen haben oder Sauerstoffmangel, auf jeden Fall etwas Ernstes. ,,Also was brauchen Sie, warum haben Sie geklingelt?", fragte ich erneut. Mittlerweile machte sich wirklich die Panik in mir breit, dass es ihm nicht gut ging. ,,Wenn sie so fragen, dann brauch ich jemanden der mir mal wieder ordentlich einen Bläst. Interesse?" Nein. Es ging ihm bestens, er war wie immer. ,,Mr. Cort muss ich Sie erneut über unsere Richtlinien bei Belästigung am Arbeitsplatz informieren?" Zur Sicherheit überprüfte ich dann doch seinen Tropf, schließlich war dieses Lächeln schon äußerst Merkwürdig. ,,Vielleicht sollten sie darüber lieber ihre Kollegin, wie hieß sie noch gleich? Megan? Aufklären. Die kleine ist gestern über mich hergefallen als hätte sie seit fünf Jahren keinen Typen mehr abbekommen.'' Nate ließ sich zurück in sein Bett fallen und knipste die Nachttischlampe aus. Ich stockte. Was?! Megan? Nie im Leben. ,,Sie sind so still? Keine sorge ich verarsch sie nur. Ich würde mit diesem Nilpferd nicht mal ficken, wenn mir mein Gehirn auf diesem scheiß Zug verbrannt worden wäre. Also beruhig dich Darabont." Mit aller Kraft versuchte ich mir ein Lachen zu unterdrücken, doch es gelang mir nicht besonders gut und so zeichnete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ab. Nilpferd. Es war zwar ein bisschen fies, aber hatte genau ins Schwarze getroffen. ,,Sie sollten an Ihrer Ausdrucksweise arbeiten Mr. Cort. Warum haben sie jetzt geklingelt? Haben Sie Schmerzen? Brauchen Sie sonst irgendetwas?" Bitte, bitte sag nein. Ich will hier raus. ,,Warum sollte ich an meiner Ausdrucksweis arbeiten?", fragte Nate. Sogar im Dunkeln sah man seine Belustigung darüber mich zur Weißglut zu treiben. ,,Die Wörter ficken, scheiße und Ihr sonstiger Wortschatz werden in dieser Gesellschaft nicht unbedingt als Vornehm angesehen." Alles was ihm darauf einfiel war ein verächtliches Pf. Hm, ich hätte mehr von ihm erwartet. Yes! Ich hatte Nate Cort, die Kratzbürste besiegt. ,,Ich versichere Ihnen, ich würde mit Megan nicht einmal den Koitus ausüben, wenn durch die Hochspannung auf dem Wagon eine Oxydation mit meinem Gehirn stattgefunden hätte", flötete Nate mit spitzen Lippen. ,,Nein. Warum haben sie jetzt geklingelt?
,,Warum passt Ihnen...''
Ich schnitt ihm das Wort ab. ,,Nein! Beantworten sie meine Frage!"
,,Lassen Sie uns zuerst..."
,,Mr. Cort ich will eine Antwort."
,,Hat Ihnen ihre Mutter nie beigebracht, dass man Leute...''
,,Mr. Cort?
,,Was?"
,,Ihre Antwort, bitte."
,,Sie sind echt ein Kotzbrocken. Ich will etwas Süßes."
Na ganz toll. Wegen Schokolade hatte er geklingelt. Irgendwie musste er das Prinzip der Klingel noch nicht so ganz verinnerlicht haben. ,,Ich habe halt von dem besten gelernt. Und warten Sie bitte nächstes mal bis zum Frühstück, wenn sie das Verlangen nach etwas Süßem verspüren. Die Klingel ist dafür gedacht, wenn man eine Schwester brauch."
,,Also kann ich auch klingeln, wenn ich bock auf Sex hab?" Kein Kommentar.
,,Wissen sie eigentlich, dass sie super sexy wirken, wenn sie versuchen gebildet zu klingen?" Meine Hand wanderte in die Tasche meines Kittels. Da musste doch irgendetwas drin sein, was ich ihm an den Kopf schmeißen konnte. Mir fiel das massakrierte Pick-up in die Hände. Das war es. Meine Chance endlich hier herauszukommen. Na ja, wahrscheinlich würde Nate nicht mitspielen dazu hatte er zu viel Stolz. ,,Entschuldigen Sie sich und sie bekommen mein Pick-up.'' Triumphierend zog ich es aus meiner Tasche. Zum Glück war es düster in den Raum und man erkannte nicht, dass das Pick-up so aussah, als wäre es einmal durch den Fleischwolf gedreht worden. ,,Es tut mir sehr, sehr leid meine Liebe. Ich schwöre Ihnen, dass so etwas nie wieder vorkommen wird." Die Entschuldigung triefte zwar vor Ironie und Provokation, doch mir war es egal. In einer halben Stunde wäre meine Nachtschicht vorbei. Dann wäre ich ihn los und konnte mich in meine Bettdecke kuscheln. ,,Sehr schön. Sie sind lernfähig, hätte ich nicht erwartet." ,,Ich habe einen IQ von 140, da sollte ich lernfähig sein und jetzt her mit dem Pick-up." Eigentlich hatte Nate es nicht verdient. Nein, eher eine Bratpfanne, die ihm mit voller Wucht -von mir- ins Gesicht gepfeffert worden würde. Stopp. Ich sollte nicht so fies sein. Der Unfall war eindeutig Bestrafung genug gewesen, auch wenn er glimpflich davon gekommen war. Nate war einfach ein Glückspilz. Warum Sprach ich ihn eigentlich mit seinem Vornamen an? Okay gut, ich tat es nur in meinen Gedanken. Trotzdem. Mein Gehirn brauchte eindeutig seinen Schlaf oder es würde anfangen Nate...ähm, ich meine Mr. Cort attraktiv zu finden. Allerdings das tat es bereits. Ehrlich gesagt schon seit Wochen. Aber ich war ziemlich sicher, dass es jeder Schwester so ging, die Augen im Kopf hatte. ,,Ey, Darabont! Schlafen Sie jetzt schon im Stehen? Ich will mein Pick-up!", motze Nate. Was war bloß heute los mit mir? Wieso tauchte ich ständig in meine Gedankenwelt ab? War unkonzentriert und durcheinander? Das war nicht ich. ,,Mr. Cort momentan befindet sich das Pick-up immer noch in meinem Besitz, also ist es mein Eigentum.",,Aha." Davon hielt Nate wenig. Generell hatte er das Interesse an mir, seinem einzigen Weg an etwas Süßes zu kommen, verloren. Lieber pustete er eine seiner dunkelblonden Haarsträhnen, die aus seiner Frisur gefallen war, von einer auf die andere Stirnseite. Oh man. Der Junge hatte die Aufmerksamkeitsspanne einer Fliege. ,,Hier." Hastig drückte ich Nate das Pick in die Hand. Für einen kleinen Moment berührten sich unsere Hände. Im Grunde war es nichts Besonderes. Wir hatten oft den Körperkontakt, der zwischen einem Patienten und einer Krankenschwester üblich war. Dieses Mal war es das Gleiche und trotzdem etwas völlig Anderes. Zum ersten Mal spürte ich seine Wärme. Es war so, als stünde er unter Strom. Als steckte die Energie der Hochspannungsleitungen immer noch in ihm. Als würde sie durch seine Venen und Arterien gepumpt werden, bis sie sich im ganzen Körper ausgebreitet hatte. Hastig ließ ich die Verpackung los. ,,So Mr. Cort jetzt dürfen Sie es IHR Pick-up nennen. Ist nun soweit alles in Ordnung?" Nate rührte sich nicht. Wie eingefroren saß er vor mir. Den Mund hatte er leicht geöffnet. Seine Pupillen standen weithervor und O Gott. Nate blinzelte nicht! Verdammte Scheiße. ,,Fuck. Fuck. Mistiger Mist!", rutschte es mir heraus. Hätte er nicht eine halbe Stunde später draufgehen können? Dann wäre es das Problem der Morgenschwester gewesen. Durchatmen Eve! Das ist nicht der erste, der vor deinen Augen abkratzt. Was war jetzt noch einmal zu tun? Ahh, der Puls. Ich musste nachsehen ob er noch einen Puls hatte. Langsam bewegte ich meine Hand auf seinen Hals zu. Mein Herz hämmerte so laut gegen mein Brustbein, dass ich der Meinung war, dass es Nate eigentlich aus seiner Starre hätte lösen müssen. Zur Sicherheit blickte ich schon einmal auf seinen Nachttischwecker. Der Todeszeitpunkt wäre 4:49Uhr. Meine Finger berührten seine Haut. Wieder durchzuckten unzählige Blitze meinen Körper. Das Blut in seiner Halsschlagader klopfte gegen meine Fingerkuppen. Ich atmete auf. Danke, danke lieber Gott. Nate Cort lebte. ,,Nehmen Sie bitte ihre Finger da Weg!", zischte er. Schnell zog ich meinen Arm zurück und trat zur Sicherheit einen Schritt vom Bett zurück. Er klang so giftig, dass er mich damit locker unter die Erde befördert hätte können. ,,Ist alles in Ordnung?" ,,Alles bestens. Gehen Sie jetzt bitte. Wenn was ist sag ich bescheid und der ganze andere Scheiß." Oh. Damit hatte er mich überrumpelt. Das letzte, was ich erwartet hätte war, dass er mich rausschmiss. In Zeitlupe bewegte ich mich zu Tür. Was war das eben? An der Tür angekommen, musste ich mich einfach noch einmal umdrehen. Irgendetwas stimmte da doch nicht. Nate saß wieder aufrecht in seinem Bett. Sein Blick ging starr aus dem Fenster. Es dämmerte draußen, die Erde erwachte. Die Sonne ging gerade auf. Sie schob sich zwischen ein paar Ahornzweigen am Himmel empor und tauchte alles in ein goldenes Licht. Für einen kurzen Moment schien diese Welt perfekt. Dann fiel mein Blick auf Nate. In seinem Bett wirkte er plötzlich ausgelaugt und zerbrechlich, als wäre er mit allem und jedem hier fertig. Wo er wohl gedanklich war? Vielleicht bei seinem Unfall? Auf einmal fiel mir noch etwas auf. Das Leben, was in den letzten Wochen in diesem Zimmer umhergegangen war, war verschwunden. Trotz der Sonnenstrahlen, die durch die Gardienen fielen und lange Schatten auf dem grauen PVZ-Boden zogen, herrschte hier drinnen eine eisige Kälte. Der Tod hatte sich hier eingenistet. Fix trat ich aus dem Raum und schloss so leise wie möglich -ich glaube Nate bekam es trotzdem mit- die Tür hinter mir. Doch das Gefühl der Kälte verließ mich nicht. Hing der Tod etwa an mir?

Don't touch my soul with dirty handsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt