Kapitel 2

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Nate

Die Kälte kroch durch meine Kleidung meinen Körper hinauf. Fluchend zog ich mir die Ärmel meines Pullis bis über beide Handflächen. Wir hatten Anfang April wie konnte es da noch so kalt sein?! Ich dachte immer, dass es durch den Klimawandel immer wärmer und nicht immer kälter werden würde...Gleich wäre es wieder soweit. Noch drei Schritte, dann wäre ich da. 1. 2. 3. Ich stoppte. Augenblicklich verstummte das Geräusch der Steinchen, die bei jedem Schritt unter meinen Füßen knirschten. Sofort lag wieder Stille über dem Gebäude. Alles lag so ruhig da wie in jener Nacht- die Ruhe vor dem großen Sturm. Hier vor mir hing sie. Eigentlich nicht besonders. Zwei lange senkrechte Metallstäbe, die an der Wand in einem parallelen Abstand zu einander befestigt waren und durch kürzere waagerechte Stäbe miteinander verbunden waren. Eine Leiter. Ich, Nate Cort, hatte Angst vor einer Leiter. Unablässig starrte ich sie an, jeden Tag aufs Neue. Jeden Tag aufs Neue schossen die Fetzen meiner Erinnerung durch meinen Kopf. Einzelne Bilder: Ich auf der Leiter. Die Schramme auf meiner Hand. Das Schild. Purer, brennender Schmerz. Und jeden Tag aufs Neue die selbe Frage: Was wäre, wenn ich nie auf diesen Wagon gestiegen wäre? Sie quälte mich nächtelang und raubte mir den Schlaf. Ich schüttelte mich. Schluss damit. Meine Hand griff nach den Stäben der Leiter. Meine Augen waren geradeaus auf den Putz gerichtet. Hastig stieg ich auf das Dach. In mir beruhigte sich alles wieder. Vor mir lag ein grünes Meer aus Unkraut. Es quoll aus jeder Ritze, hatte sich mit aller Kraft durch die Platten gekämpft, bis es das gesamte Flachdach eingenommen hatte. Ob man das Zeug wohl rauchen könnte? Nein, da war ich mir leider ziemlich sicher. Dahinter erstreckte sich die Skyline Seattles. Wortwörtlich mein Dach der Welt. Ich bahnte mir meinen Weg durch das Kraut, bis ich eine freie Stelle am Rand des Daches erreicht hatte. Aus der Tasche meiner Jogginghose kramte ich ein Päckchen Amercian Spirit und zündete mir eine der Zigaretten an. Eigentlich hasste ich den Geschmack von Zigaretten, doch sobald ich den Rauch in meine Lungen spürte, entspannte sich jede Faser meines Körpers. Es war wie mit Alkohol- man trank nicht wegen des Geschmacks sondern wegen der Wirkung, genauso war es mit dem Rauchen. Langsam blies ich den Rauch wieder aus. In langen Schwaden hing er vor mir in der Luft. Sie sahen aus wie dünne Ärmchen, die versuchten nach den Farben des Morgenhimmels zu greifen. Doch jedes Mal, wenn sie es bis an den Rand des Krankenhausdaches geschafft hatten, lösten sie sich auf und wurden wieder eins mit der Luft. Dieses Krankenhaus war ein Gefängnis, es war mein Gefängnis. Wieder griff ich in die Tasche meiner Jogginghose, aber dieses Mal suchte ich mein Handy. Sollte ich sie wirklich anrufen? Ja, wir waren Freunde. Und wem hätte ich es sonst erzählen sollen? Meiner Mutter? Sicherlich nicht. Hastig gab ich ihre Nummer ein und tippte auf wählen. Wie nicht anders zu erwarten, nahm Sina, meine Mitbewohnerin, direkt nach dem ersten Klingeln ab. ,, Bist du jetzt völlig bescheuert?!"
,,Es ist auch sehr schön deine Stimme zu hören", erwiderte ich.
,,Weißt du wie viel Uhr wir haben?", der Ärger in Sinas Stimme war kaum zu überhören.
,,Es ist 5:34 Uhr, wenn du es genau wissen willst. Und jetzt heul nicht rum. Geschlafen hast du eh noch nicht. Du sitzt gerade auf der Couch mit einem Stück Pizza von gestern und schaust dir Trash Tv an, weil du zu zugedröhnt bist, um zu schlafen."
,,Es ist chinesisch von gestern und falls du es genau wissen willst ich schaue ,Keeping up with the Kardashians'. Ist sehr unterhaltsam. Kims Arsch vermisst es übrigens wie du ihn immer angaffst."
Ich musste Grinsen. Obwohl ich schon so lange weg war, hatten sich die grundlegenden Dinge nicht verändert. Es tat gut diese Vertrautheit zu spüren.
,,Also womit habe ich die Ehre, dass du mich um halb sechs morgens anrufst?", fragte Sina mit vollem Mund.
Ich nahm einen Zug von meiner Zigarette. ,,Also ich hatte gestern Abend nochmal ein Gespräch mit dem Oberarzt."
,,Und weiter? Oh man, Nate, lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen."
,,Er meinte es ist alles gut verheilt, meine Werte und mein physischer Zustand sind ebenfalls wieder gut und stabil. Außerdem meinte er es ist ein Wunder, dass ich fast ohne Brandnarben und Langzeitschäden davon gekommen bin", beendete ich meinen Satz.
,,Das bedeutet jetzt was? Ich bin kein Arzt noch kann ich Gedanken lesen, sag endlich was Sache ist", forderte mich Sina auf.
,,Das heißt ich kann Ende dieser Woche wieder nach Hause."
,,Oh, toll."Wow. Sina hätte den Preis für die schlechteste vorgespielte Freude des Jahres damit auf jeden Fall gewonnen.
,,Weniger Emotionen waren nicht mehr möglich oder?"
,,Hör zu Nati ...", begann Sina. Oho, es war nie gut, wenn sie „Nati" sagte. Sie benutzte es ausschließlich, wenn sie mir unangenehme Dinge beichten musste.
,,Du bist seit zwei Monaten weg und es war zunächst auch überhaupt kein Problem, dass ich die Miete und alles weitere alleine bezahlen musste. Aber langsam ist das einfach nicht mehr machbar."
Super. Ich war obdachlos.
,,Kein Problem. Ich ziehe einfach in meine Luxusvilla nach Beverly Hills", antwortete ich trocken.
,,Versteh doch bitte auch meine Situation, das Wasser steht mir bis zum Hals!", flehte Sina.
Ich gab ihr keine Antwort. Natürlich wusste ich wie es war in der Mitte des Monats schon nicht mehr zu wissen wo man etwas zu Essen herbekommen sollte, doch Sina und ich kannten uns seit wir denken konnten. Ging diese Freundschaft nicht vor? Für mich stand Sina an erster Stelle. Aber anscheinend beruhte das nicht auf Gegenseitigkeit.
,,Das Leben ist hier draußen nun einmal weitergegangen", fügte Sina hinzu als ich immer noch nichts sagte.
,,Ist schon okay, ich vögel mich schon durch", antwortete ich schließlich.
,,Es bedeutet ja nicht, dass du direkt Freitag dein Zeug zusammenpacken und gehen sollst. Du kannst solange bleiben, bis du etwas Anderes gefunden hast. Nur auf Dauer geht das einfach nicht mehr, dealen ist eben auch nicht die sicherste Einnahmequelle."
Sagte die Stripperin. Mir standen nun genau zwei Möglichkeiten zur Auswahl:
Möglichkeit Nummer eins: Ich wohnte noch ein paar Nächte bei Sina und würde anschließend auf einer Bank im Park schlafen.
Möglichkeit Nummer zwei: Ich schlief direkt auf einer Parkbank.
Diese Entscheidung fiel mir nicht besonders schwer.
,,Gut, dann bis Freitag," verabschiedete ich mich.
,,Bitte sei nicht sauer, ja?"
Klar, wer wäre nicht sauer, wenn die beste Freundin einen aus der gemeinsamen Wohnung kickte?
,,Du hast ja noch bis Freitag Zeit wie ein kleines Kind zu schmollen. Ruf mich an, dann hol ich dich ab. Bis Freitag", fügte Sina noch hinzu. Klack. Die Leitung war tot.
,,Du hast ja noch bis Freitag Zeit wie ein kleines Kind zu schmollen", äffte ich Sina nach.
Mit Schmollen hatte das wenig zu tun. Es ging um die unausgesprochene Regel, die zwischen uns herrschte: Lieber gemeinsam unterzugehen als alleine dazustehen. Aber es war dumm von mir zu denken, dass ich mich auf einen anderen Menschen verlassen könnte. Ich lies mich auf den Boden sacken. Was hatte ich noch für Optionen? Meine Mutter. Bei einer verbitterten Rentnerin in Florida auf der Couch zu schlafen? Nein, danke. Dann doch lieber die Parkbank. Na, super. Naja, zu Not vögelte ich eben für eine Unterkunft. Auch wenn das selbst für meinen Geschmack ziemlich niveaulos war. Es war etwas völlig anderes mit einer Frau unter falschem Namen zu schlafen und sie anschließend nie wieder anzurufen als mit einer Frau unter falschem Namen zu schlafen für eine Unterkunft. Fehlte nur noch, dass sie mich dafür bezahlen würde und das Ganze wäre Prostitution. Warum hatte ich mich damals nur fürs Dealen entschieden? Als männliche Hure würde ich nun wahrscheinlich wirklich in einer Luxusvilla wohnen, Mist. Okay, Gras war um einiges besser als Geschlechtskrankheiten. Doch eine schicke Villa auch als eine Bank im Park. Schluss damit. Ich heulte rum wie ein Mädchen während ihrer Tage. Zwar hatte ich seit Monaten keinen Sex mehr gehabt, aber eine Vagina war mir hoffentlich noch nicht gewachsen. Von meinem Platz aus konnte ich die gesamte Skyline Seattles überblicken. Die ersten Sonnenstrahlen brachen durch die Wolkendecke. Es sah so aus als wäre jemand über den Wolken gerade aufgewacht und hätte das Licht eingeschaltet. Sie hingen in Orange- und Gelbtönen über den Dächern der Wolkenkratzer, in deren Fenstern sich das Licht der Sonne spiegelte. In meinen Augen war der Sonnenaufgang über der Stadt das schönste am Tag. Die ersten Leute waren vor die Tür getreten und machten sich auf den Weg zur Arbeit. Manchmal war es seltsam die Menschen dort unten sowie die Ärzte und Schwestern hier im Krankenhaus zu beobachten. Man wusste, dass es für sie noch etwas Anderes gab. Für sie existierte ein Leben außerhalb dieser Mauern. Für mich nicht. Nicht mehr. Die Leute stiegen nach Feierabend in ihre Autos und fuhren nach Hause. Nicht einmal mehr das besaß ich. Bei dem Wort Autos begann meine Haut zu bitzeln. Es war so als wäre meine gesamte Haut mit Brausepulver belegt. Plötzlich sah ich ein helles Licht. Es breitete sich vor meinen Augen aus, bis alles in ein helles Weiß getaucht war. Fuck. Nicht schon wieder. Es war ein warmer Frühlingstag. Die Sonne stand hoch am Himmel. Vor mir lag ein Highway. Eine Frau saß am Steuer eines schwarzen Golfs. Sie hörte Radio und sang den Refrain lauthals mit. Immer wieder wanderte ihr Blick zum Rückspiegel. Ihr Haar viel ihr in roten Wellen auf die Schultern, um ihre Nasen und auf ihren Wangen tummelten sich unzählige Sommersprossen. Ihre blauen Augen begutachteten das Bild im Rückspiegel immer wieder kritisch. Nervosität lag in der Luft. Die Frau hatte das Lenkrad fest umklammert. Wo wollte sie ihn? Wieder wanderte der Blick in den Rückspiegel. Die rechte Hand der Frau wanderte in eine Tasche, die neben ihr auf dem Beifahrersitz stand. Einen Moment suchte die Hand etwas in der Tasche, bis ein roter Lippenstift zum Vorschein kam. Mit gespitzten Lippen begann die Frau den Lippenstift aufzutragen. Plötzlich stoppte sie. Ihre Pupillen erweiterten sich um das dreifache. Panisch hämmerte sie auf die Hube. Doch es half nichts mehr, es war zu spät. Ein schwarzer BMW krachte von hinten in den Wagen. Wie eine Ziehharmonika wurde der Golf in sich zusammen gedrückt. Die Frau schrie. Ich spürte ihre Angst. Sie wusste, dass sie sterben würde. Ein letztes Mal blickte sie um sich, sie suchte einen Ausweg, sie wollte überleben. Aber es gab keinen. Der Körper der Frau wurde nach vorne gerissen und prallte auf einen der Airbags, die bereits aufgesprungen waren. Ein Knacken war zu hören. Brennender Schmerz machte sich in meinem Brustkorb breit. Es war als hätte jemand meine Rippen mit Benzin übergossen und sie anschließen angezündet. Die Frau lag mit dem Gesicht auf dem Lenkrad. Ihre Augen waren geschlossen. Von ihrem Mund führte ein Strich Lippenstift quer über ihre Wange.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 22, 2015 ⏰

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