Prolog- Erde

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Washington D.C., Erde, 20. Juni 2053

"Officer, da nähert sich etwas."
Turma Rolls strich kauend durch die Zentrale. Außer seinen unangenehmen Schmatzlauten war nur das unstete Summen der Computer zu vernehmen und er hatte nicht im Geringsten Lust, sich von seinem Mittagessen ablenken zu lassen. Er ignorierte den Ausruf und konzentrierte sich voll und ganz auf sein Sandwich.
"Officer, ich glaube, das sollten sie sich ansehen..."
Mit einem resignierten Seufzer gab Rolls auf und beugte sich über das Display des IDots. "Stranner, was sehen sie?"
"Die Box, Officer. Sie wurde geöffnet."
Rolls blieb der Mund offen stehen. Kleine Schinkenbröckchen taumelten zu Boden, ohne dass er etwas davon mitbekam.
"Geöffnet?"
"Geöffnet, Sir. Die Box, Officer."
"Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz. Haben sie gerade gesagt, dass die Box- die Box- gerade eben geöffnet wurde?" Rolls stierte auf den IDots, eine relativ neue Version eines Holo-Touchscreens. Eine schwarze Box, die an einem SpaceTraveller befestigt durch das All schwebte, war zu erkennen. Der Deckel stand offen. Erst durch die Innenkamera erkannte Rolls, dass die Box leer war. "Sie haben ihn", flüsterte er, "sie haben den Bildschirm!" Begeistert ließ er einen lauten Jubelschrei hören und fuhr herum. Es war nur noch eine Frage der Zeit bis zu seiner Beförderung. Er würde strahlen wie- ein Stern. Rolls kicherte leise über das Wortspiel. Ein Stern, allerdings.
In diesem Moment krachte es. Rolls fuhr zusammen- der Bildschirm!
Das riesige Hologramm schwebte frei in der Mitte der Zentrale. Überall tauchten Köpfe über den Computern auf, die argwöhnisch das verschwommene Bild musterten.
"Stranner, lokalisieren sie den Bildschirm!"
Rolls eilte auf das Hologramm zu.
Das Bild wurde schärfer, ein Gesicht wurde erkennbar... Rolls zuckte zurück. Dem Mann fehlte ein Auge.
"H'oo? H'oo!", drang zwischen dem Krachen aus den Lautsprechern. Rolls hätte beinahe geweint, als das seltsame Gesicht des Mannes mit dem lila Auge und den tomatenroten Haaren immer besser erkennbar wurde. Er hatte es geschafft! Er hatte es gewusst! Es gab sie da draußen!
"Siebenundsiebzig Milliarden Drei Millionen siebenhundertachtzig Tausend dreihundertundzwölf Lichtjahrzehnte, Galaxie Blauaal", meldete Durches.
"Hier der Planet Erde!", rief Rolls. Er kriegte sich kaum mehr ein.
"Whenua. Wir sind Whenua!", krächzte der Typ auf dem Hologramm.
Es flackerte kurz, dann erlosch das Bild.

Rolls wusste, dass er in dieser Nacht nicht mehr von der süßen Praktikantin in der Cafeteria träumen würde.
"Es gibt sie da draußen. Ich wusste es! Wir haben da draußen Leben gefunden!"
Lächelnd zog er eine Augenbraue hoch. "Macht Euch auf etwas gefasst, Mr. President. Wir sind nicht allein in diesem Universum."

England, Erde, 17. April 2044

Eine weitere Welle des kochend heißen Sandes brach über die Siedlung herein. Er verstopfte Kamine, verpfropfte Türen, verriegelte Fenster. Schreie tönten über den grieselnden Geräuschen des unnatürlich heftigen Sandsturms. Mehrere Leichen zuckten im Sand, den weißen Körper über und über mit Brandblasen entstellt. Teilweise ragte der Sand schon so hoch auf, dass nur noch die Kamine ihre Spitzen durch die todbringende Decke steckten.

Nicholas Gramlyn duckte sich zwischen zwei Möbel. Ein antiker Eichenschrank und die wertvolle Kommode aus dem Gramlyn'schen Familienbesitz... der inzwischen schon zwei Beine fehlten. Mutter wird mich umbringen.
Er zog den Kopf zwischen die Schultern und zog zischend die Luft ein, als ein weiterer Schwall Sand durch den behelfsmäßig verbarrikadierten Kamin rutschte und ihm den entblößten Nacken verbrannte.
Die gewaltigen Sandstürme hatten vor einigen Wochen angefangen. Es waren ab und zu Menschen ums Leben gekommen, größtenteils war die Zivilisation allerdings unversehrt geblieben.
Und jetzt?
Jetzt brachte dieser Sturm die Veränderung. Seit nunmehr elfeinhalb Stunden litten die Bewohner von London Todesangst vor den steten Sandströmen, die vom Himmel stürzten.
Nicholas kroch hilflos unter den Möbeln hervor. In dem Haus würde er bei lebendigem Leib gebraten werden.
Unter dem Druck des drohenden Todes robbte er unsicher durch den Raum. Unter dem Bett entblößte er mit zitternden Händen eine im Boden eingefügte Holzlatte. Sand drang ihm in die Nase, doch er ließ sich davon nicht beeinflussen.
Prustend legte er eine schwarze, wenig einladende Öffnung im Boden frei. Er erinnerte sich noch lebhaft an die Ehekrise, die der Bau des unterirdischen Fluchtweges ausgelöst hatte...
Aber jetzt würde er ihm das Leben retten.
Nicholas zwängte sich durch das enge Loch. Seine Finger verkrampfen sich um den Boden, er hing frei in der Luft... dann stach ihm ein neuer Schwall Sand wie mit Nadeln in den Nacken. Er konnte förmlich spüren, wie seine Haut Blasen warf. Mit einem verzweifelten Schrei ließ er sich fallen- und prallte unsanft auf festgetretenen Lehm.
Weiter.
Verzweifelt hetzte er durch den schmalen Gang. Ein unheilverkündendes Ächzen erfüllte den engen Tunnel. Er spurtete weiter, als ihn ein nur allzu bekanntes Gefühl der Schwäche und Enge überfiel... "Doch nicht jetzt, verdammt!", brüllte Nicholas verzweifelt. Er konnte förmlich sehen, wie die Wände näher rückten... seit Jahren hatten ihn keine klaustrophobischen Anfälle mehr geplagt. Natürlich mussten sie genau heute wieder anfangen. Die Ärzte hatten sich von den Medikamenten viel versprochen. Nach der Erkenntnis, dass man Klaustrophobie in menschlichen Zellen nachweisen konnte, hatte er als Gentechniker schon zahlreiche Experimente durchgeführt. Bei ihm wirkte keines der Medikamente auch nur im geringsten.
Dieser Moment der Unaufmerksamkeit war schon zu viel gewesen. Nicholas' Kopf prallte mit voller Wucht gegen einen morschen Balken an der Decke, der mit einem Knirschen langsam nachgab... er stürzte, schlug der Länge nach hin. Sofort schoss Blut aus seiner Nase. Fluchend presste sich Nicholas den Ärmel gegen das Gesicht. Glitschige Flüssigkeit tropfte über seine Hand.
Egal.
Weiter.
Erneut erfüllte grauenerweckendes Stöhnen den Tunnel. Nicholas konnte förmlich beobachten, wie die notdürftig gestützte Tunneldecke langsam nachgab.
Schneller.
Nicholas war kein Sportler. Aber unter Drucksituationen zu handeln, hatte er schon früh gelernt. Also spurtete er weiter, während krachende Geräusche hinter ihm alle Hoffnung zunichte machten, sein Heimathaus könnte den Sandsturm vielleicht überstehen.
Das einzig Hoffnungsvolle war der Lichtschein am Ende des Tunnels... Nicholas schüttelte über seinen verkehrten Humor den Kopf- aber da war wirklich Licht. Bald, bald, bald-
Und dann war da das Ende, der bloße Stein vor ihm. Und das Licht.
Nicholas warf den Kopf in den Nacken und reckte sich, erwischte die unterste Sprosse einer frei in der Luft hängenden Leiter und hangelte sich mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck daran hoch. Sein Leben hing von den morschen dünnen Holzbalken ab- die bedenklich unter seinem Gewicht zu schwanken begannen... Der Sand quoll aus dem Tunnel unter ihm, als habe er ihn persönlich verfolgt. Im ersten Moment fesselte ihn der Anblick des kochenden Todes mit unkontrolliertem Zucken an die Holzstreben- dann kletterte er los. Über ihm der Sandsturm- und unter ihm der Sandstrom. Bleib ernst!
Sein Leben hing davon ab.
Das war sein Mantra.
Dein Leben. Hängt. Von. Deiner. Leistung ab.

Die Holzsplitter in seinen Handflächen kümmerten Nicholas nicht. Er kauerte im Schatten eines Hauses, das ihn weitgehend vor dem Sand schützte. Aber irgendwie musste er weg aus der Stadt.
Nur wenige Meter entfernt wehten die Schals einer beleibten Leiche im heftigen Wind. Nicholas stellte mit Grausen fest, dass ihn der Anblick von Toten inzwischen zu kalt ließ- und schob sich an der Wand des Hauses die Straße entlang. Und dann- dann lag da jemand.
Ein winziges, alabasterweißes Häufchen von Mensch. Inmitten des Hitzewellen ausströmenden, über hundert Grad heißen Sandes ruhte auf nichts als seiner bloßen Haut ein Mädchen. Nicholas stufte sie irgendwo zwischen ein und drei Jahren ein. Doch das absolut seltsame war, dass sie- obwohl auf einer tödlichen Decke ruhend- sich bewegte. Wie jedes andere Baby auch. Perplex starrte Nicholas sie an und registrierte entsetzt, wie plötzlich eine Sandwelle auf das Mädchen zurollte und ihren zarten Körper in einen kochenden Wirbel hüllte.
Sie würde sterben. Er wusste es, starrte aber dennoch wie gebannt auf den Sandblizzard. Mit einem Mal zog sich der Sand zu einer perfekten Säule zusammen, reckte sich in die Höhe, nur um gleich darauf zu sinken...
Dann verwandelte sich der Sand in Glas.

Nicholas schnappte nach Luft, ging in die Knie. Jetzt.
Jetzt war er verrückt geworden. Rief die Hitze Halluzinationen hervor? Doch da vor ihm glitzerte ein durchsichtiger Zylinder im Licht des plötzlich aufreißenden Himmels und schien erstaunlich fest dafür, dass er gerade geschaffen worden war und außerdem ein Hirngespinst.
Nicholas ignorierte die Böhe, die ihm Sand ins Gesicht trieb, und stolperte auf das erstaunliche Bild zu, das sich ihm da bot.
Der Zylinder war perfekt. Ohne jeglichen Makel und kerzengerade. In der Mitte des Hohlkörpers nuckelte das Mädchen zufrieden an seinem Daumen. Fassungslos beobachtete er, wie der winzige weiße Körper sich plötzlich in die Luft erhob und durch die gläserne Röhre gen Himmel schwebte... er musste sich den Kopf gestoßen haben.
Mädchen fliegen nicht. Genauso wenig wie Jungen oder andere menschliche Individuen!
Nicholas war unfähig sich zu rühren. Stocksteif stand er da, während sich das Kind aus dem Glas erhob und dann an der Seite der Säule wieder herab sank... direkt in seine Arme.
Mit riesigen, schokoladenbraunen Augen inspizierte sie sein Gesicht, die Hände noch immer in ihren Leib gekrümmt.
Noch nie hatte Nicholas so etwas Wunderschönes gesehen. Dichte Locken kringelten sich über den Rücken des Babys und bildeten einen reizvollen Kontrast zu der alabasterweißen Haut. Dieses makellose Etwas in seinen Armen ließ sich Nicholas wieder der Flecken auf seiner verbrannten Haut bewusst werden, er erinnerte sich an die Narbe, die seine Augenbraue teilte, an seine schiefe Brille und das matte Haar, das links länger war als rechts. Und doch war ihm das alles in diesem Moment völlig gleichgültig. Nichts schien ihm nun wichtiger als der zarte Körper des Kindes in seinen Armen.
Nicholas war klar, dass es wohl mit irgendwelchen suspekten Hexenkräften den Sand verwandelt hatte und geschwebt war- aber was kümmerte ihn das?
Er senkte den Kopf zu den sich bewegenden Lippen hinunter.
Und dann flüsterte das Mädchen seinen Namen.

NeverlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt