Neverland

I - Erde

Island, Erde, 18. Dezember 2057

Ich hob die filigranen Hände zum Himmel. Schnee begann um meine Füße zu wirbeln, er stieg bis hoch über meinen Kopf und verwandelte sich in funkelnde Spiralen, die sich ringförmig um meinen Körper legten. "3004-137! Melden!", brüllte ein jugendlicher Offizier in die Richtung des kleinen Blizzards. Ein perlendes Lachen antwortete ihm, und als die Schneesäule näher huschte, glitt ihm der eiskalte Stoff unter den Kragen. Dann wirbelte sie wieder von dannen, und die vergeblichen Versuche des Offiziers, sich den Schnee aus der Jacke zu fischen, wurden mit einem Kichern quittiert.
"3004-147! Melden, oder Sie haben mit dem Äußersten zu rechnen!"
Die Heiterkeit in der Stimme erstarb. Der Sturm legte sich wieder, und zurück blieb das Mädchen, das mit der Nummer 3004-137 gerufen wurde.

Ich war weder klein noch besonders groß, maß mit meinen fünfzehn Jahren knappe ein Meter siebzig. Ich war in ein fließendes weißes Gewand gekleidet, das vorteilhaft meinen schmalen Körper umspielte. Dunkle, schokoladenfarbene Locken kräuselten sich dicht über meinen schmalen Rücken bis hin zu meiner Hüfte. Mein aufgeweckter Blick fesselte immer wieder aufs Neue mit meinen unterschiedlichen Augen- eines silbern, fast schon weiß, das andere dunkelbraun wie mein Haar.

Der offenbar stocksaure Offizier zwang meine schmalen Hände durch zwei Öffnungen in eine Eisenkugel. Die Ränder der Öffnungen zogen sich sofort so eng zusammen, bis sie perfekt die Konturen meiner Handgelenke umschlossen. Ich wuchtete die Kugel mühevoll in die Luft und fixierte sie, bis sie mitsamt meiner Hände etwa auf Brusthöhe schwebte.
"Keine Verwendung von sämtlichen Kräften außerhalb der vorgegebenen Zeiten", fauchte der Offizier. Er winkte kurz mit der Hand, und ich wurde aprupt nach vorne gerissen.

Während wir beide, eingeschlossen in einer metallenen Kugel, tief ins Innere der Erde hinabschossen, rief ich mir meine aktuelle Lage in Erinnerung. Sei brav, und du bekommst Antworten, war die Botschaft von Shar gewesen.
Ich hatte alles in der Macht stehende für ihn getan, und doch hielt er mich seit nunmehr vier Jahren in dem Eisenkäfig fest, der rief in die Gebeine von Mutter Erde eingebettet dalag.
Ein strikter Tagesablauf regelte mein Leben in der "Sylvie 3x", der Station, die eigentlich zur Erdölförderung erbaut worden war. Nach außen hin bewahrte Shar diesen Schein noch immer. Aber die Sylvie 3x war ein streng geregeltes Forschungslabor, dass vor allem aufgrund der rechtswidrigen Machenschaften im Geheimen betrieben wurde.
Um Punkt 6.10 Uhr fuhren die Schächte im Schlafraum ihre Matratzen mit den Insassen aus. Fünf Minuten Zeit, um etwas anzuziehen, dann geleiteten die einige Offiziere und ein Admiral die kleine Gruppe- bestehend aus genau vier Personen- in den Speisesaal, wo unsere Körper mit Vitaminshakes vollgepumpt wurden. Danach ereilte die Objekte, wie Shar uns vier zu nennen pflegte, ein individueller Trainingsplan. Jeder wurde auf eine bestimmte Aufgabe getrimmt.
1903-124 erhielt Unterricht in technischen Angelegenheiten. Er sollte der Zivilisation später durch seine Erfindungen nutzen und aufgrund seines praktisch unzerstörbaren Körpers Dinge herstellen und reparieren, die die Roboter nicht zu Stande brachten.
3341-981 ließ täglich Rhetoriklektionen über sich ergehen. Er wurde nicht nach den neuesten Idealen umoperiert, sondern besaß von Natur aus die Kraft, das Äußere durch Illusionen zu verschleiern und sollte durch seine zauberhafte Stimme, der jegliches Wesen auf Anhieb verfiel, in der Lage sein, Völker zu bewegen.
7033-554 war einfach nur da. Seine Kraft war ungebändigt, noch war unsicher, was mit ihm anzustellen war- er hatte die Sylvie 3x erst vor wenigen Wochen erreicht.
Und ich... ich trainierte Kampfsport sowie die Fortbildung meiner Kraft. Inzwischen hatte ich den Umfeld der Anti-Schwerkraft auf bereits zwei Meter ausgeweitet und in der Lage, die Stoffeigenschaften jeglichen Materials zu verändern... außer denen von Wasser. "Dieses Mädchen", hatte Shar prophezeit, "wird uns noch mehr nützen als alle anderen zusammen. Sie ist quasi unerreichbar wegen der Sache mit der Schwerkraft. Und den Rest bekommen wir schon auch noch aus ihr raus..."
Und das versuchten sie nach Kräften.
Täglich um 17.30 Uhr wurde ich in das Labor gebracht und, je nach dem, entweder an den Tisch oder den Stuhl festgebunden. Dann kamen die Forscher, die Foltermeister, die mir kochendes Gift in den Körper spritzten, die mich in Qualen zucken ließen, die mir das Augenlicht genommen hatten. Nur ein Auge war wiederhergestellt worden, das andere taugte nun nichts mehr zum Sehen. Doch die Quelle meiner Kraft lag darin.
Ich spürte mit dem Silberauge.