Der Anfang von allem
Ich will schreien, doch ich vermag es nicht. Es ist, als wäre ich meiner Stimme beraubt, meinem Denken, meinen Gefühlen. Durch einen Satz. Mehr als alles habe ich mir gewünscht diesen Satz zu hören. Mein gesamtes Leben lang. Seit ich denken kann. Und jetzt, wo er ihn spricht ...
»Sie ist meine Tochter.«
Ich starre den Mann an, der mein Vater ist, der sich mit diesen Worten zu mir bekennt. Und mich damit vernichtet.
Mirja wird blass, macht einen Schritt nach vorn, will etwas sagen aber eine der Wachen tritt dazwischen und fasst mich am Arm. Ich folge. Was soll ich auch anderes tun.
Sie ist meine Tochter...»Wir tun jede Arbeit. Im Stall, in der Färberei, alles! Das Mädchen wird mit anpacken.« Auf den Knien gelegen hatte ihre Mutter vor dem Tor und um Arbeit im hohen Haus gebeten.
»Ihr kennt mich. Ich brauche nicht viel, doch der Winter kommt und ihr wisst, unsere Hütte ...«
Das Stroh auf dem Boden hatte Feuer gefangen, weil ich ein Holz aus der Feuerstelle genommen hatte. Dieses wunderbare Leuchten. Eine Kraft, die mir zugeflüstert hatte, sie freizulassen, ihr mehr Raum zu geben als den begrenzten mit Steinen gefassten Bereich der Kochstelle ...
Für einen Moment schließe ich die Augen. Ich kann das Feuer wieder fühlen. In mir. Wie damals. Ich will danach greifen, es fassen. Lasse ich es los, werde ich jeden in diesem Saal, mich eingeschlossen vernichten. Und das erscheint mir gerecht. Angemessen. Es entspricht meiner Wut ...
»Welch eine Verschwendung!«
Ich zucke zusammen, reiße vor Schreck die Augen auf und blicke in das Gesicht des Mannes, der das alles zu verantworten hat. Er sieht mich direkt an.
Neben mir bewegt sich der, der mein Vater ist und sich seit wenigen Augenblicken auch so nennt.»Ihr habt auf diesem Tribut bestanden, Herr. Falls ihr mich davon befreien wollt, werde ich der Letzte sein, der es Euch nicht danken wird ...«
Etwas zuckt um die Mundwinkel des Mannes, der mich noch immer ansieht. Ist das ein Lächeln? Kann jemand lächeln, der innerhalb weniger Tage den Norden meines Heimatlandes verwüstet hat? Der durch ein Fingerschnippen eine Stadt unter Asche begrub und nun aus jedem Haus das erstgeborene Kind fordert ...
»Es kostet mich mehr, als nur ein Fingerschnippen.«
Für einen Moment sind meine Gedanken wie weggewischt. Was bei den Göttern ...
»Verzeiht, Herr, ich verstehe nicht ganz ...«
Mein Vater verneigt sich tiefer, während ich den Mann völlig schamlos anstarre.
Bis mir Mirja von hinten zuzischt, ich solle bei allen Welten den Kopf senken, wie es sich schickt.»Weil ich nicht mit Euch rede, sondern mit Eurer Tochter, Melen dei Lorana.«
Im Saal wird es totenstill. Jedem ist klar, was auf dem Spiel steht. Es gibt niemanden, der sich nicht an Enora erinnert. Das Haus, das ausgelöscht wurde. Die Stadt unter der Asche ...
Jeder im Saal hat an der Betonung des Wortes Tochter zweifelsfrei gehört, dass er Bescheid weiß, doch er lässt es dabei nicht bewenden. Präzisiert es mit glasklarem Spott.»Oder sollte ich sagen ... mit Eurem Bastard?«
Immer noch sieht er mich an. Wartet auf meine Reaktion aber ich gebe ihm nicht die Genugtuung meiner Angst. Soll er uns alle vernichten. Mir wäre es recht!
Mein Vater erbleicht. Die Tatsache, dass er mich in den letzten Monaten in die Gemächer seiner wahren Tochter geholt hat, nützt ihm nichts. Sie hat er mit einer Eskorte und seinem jungen Sohn nach Kherravar geschickt und ich war so naiv, mich zu freuen. Meine in der Färberei blau gewordenen Hände wurden geschrubbt. Ich lernte Handschuhe zu tragen, mich in Kleidern zu bewegen, deren Saum bis auf den Boden fiel und die ich nicht alleine anziehen konnte. Wie man sich am Tisch benimmt ...
Ich war dumm genug zu glauben, wenn ich das alles beherrschte, würde er mich anerkennen, würde mich sein Kind nennen ... Nicht nur, um mich zu verkaufen.»Ihr habt aus jedem Haus das erstgeborene Kind verlangt. Dieses ist mein erstgeborenes Kind. Herr ...«
Die Stimme meines Vaters reißt mich aus meinen Gedanken. Jetzt, wo alles verloren ist, erwacht ein Teil seines Trotzes. Den Stolz hat er in Martell gelassen, hieß es unter den Dienern, als seine Frau mit den Kindern abreiste. In Martell, wohin er als Führer seines Hauses mit seinen Mannen zog.
»Keinen Fuß wird dieser Mann auf andoranischen Boden setzen. Dies ist unser Land. Was schulden wir ihm Gehorsam? Wir sind frei, waren es immer schon und werden es bleiben! In Aidris musste er nur ein Land voller Sklaven unterjochen aber hier ist das anders. Jeder Einzelne von uns ist Willens für seine Freiheit zu sterben!«
So hatten sie gesprochen, als sie loszogen. Inzwischen hieß es Herr und man verneigte sich vor dem anmaßenden Emporkömmling ...
Und nun spricht er.»Ich erkenne den Tribut an. Wenn auch aus anderen Gründen, als ihr es vermutet.«
Das Aufatmen ist im Saal deutlich zu hören. Es wird kein zweites Enora geben. Mein Atem hingegen stockt, denn das bedeutet, das er mich mitnehmen wird. Obwohl ich nicht die Geisel bin, die er sich gewünscht hat. Das erstgeborene Kind, der Erbe des Hauses. Die Versicherung, dass es keinen Aufstand geben wird ...
»Ich nehme sie und euren Sohn. Das erste und das letzte Kind, das ihr haben werdet.« Die Stimme ist kalt wie Eis. »Ihr glaubt doch nicht, dass ich sie nicht finden kann?«
»Ich werde einen Boten senden, falls das euer Wunsch ist ...«
»Ein Brief mit Eurem Siegel genügt.« Er nickt seinen eigenen Wachen zu. »Bringt das Mädchen nicht zu den anderen - Sie geht auf die Falir Nahar.«
Der Saal verschwimmt vor meinen Augen. In Aidris, dem Land, in das man mich bringen wird, werden Menschen verkauft wie hier die Hühner. Und ich bin keine adelige Geisel ich ...
Ein Griff schließt sich fest um meinen Arm. Zwei Soldaten vor mir, zwei dahinter. Eine Menge aufwand für die Bastard-Tochter des Hauses Lorana. Ich werde mich aber Nicht verkaufen lassen. Ich fasse das Hafenbecken fest ins Auge. Meine Bewacher tragen Rüstung. Von ihnen wird mir keiner hinterherspringen und ich selbst hatte bisher nicht die Muße Schwimmen zu lernen. Das mich keiner der Soldaten wirklich ernst nimmt, hilftmir. Die Vorderen beiden unterhalten sich in einer Sprache, die ich nicht spreche. Ich werde ein wenig langsamer. Nur ein bisschen mehr Abstand ... Jetzt. Den Rock des Kleides bis über die Knie hochziehen und losrennen ist eins. Ich bin flink. Oft genug musste ich die Ferkel einfangen ... Rennen, nicht denken! Das hier ist die letzte Tat meines Lebens. Ich will sie nicht verpfuschen. Die Soldaten sind auch schnell. Zu schnell. Einer bekommt meinen Umhang zu fassen. Ich lege meine gesamte Kraft ins vorwärts, stemme mich wie ein Karregaul dagegen ... Kurz bevor der Schmerz an meiner Kehle unerträglich wird, reißt das Band und ich taumele nach vorn. Doch schon kommt der Nächste auf mich zu. Ich versuche auszuweichen, verliere den Boden unter den Füßen ...
Das Wasser schlägt über mir zusammen und mit ihm die Erkenntnis, das ich nicht sterben will. Dass es das nicht wert ist ...Nur habe ich nie gelernt zu schwimmen.
DU LIEST GERADE
Vea: Der Anfang von allem
FantasyVea Ihr größter Wunsch wird zum Alptraum, als er sich erfüllt. Ihre größte Sehnsucht verkehrt sich ins Gegenteil. Und doch beginnt an dieser Stelle ihr neues Leben. Weltensplitter bezeichnet eine mit diesem Splitter beginnende Sammlung von Spin off...