Ich sitze ganz vorn an der Spitze des Schiffes. Dort, wo nur noch ein starkes Rundholz, der Klüverbaum, wie ich inzwischen weiß, über das Schiff hinausragt. Ein Netz ist dort gespannt, durch das Meerwasser hindurchspritzt, wenn der Bug eine Welle schneidet. Wasser. Seit dem Essen, bei dem ich serviert habe, geht es mir nicht mehr aus dem Kopf. In der wenigen Freizeit, die ich hier an Bord besitze, stehe ich an der Reling und beobachte. Wie es sich vor dem Schiff teilt und dahinter wieder schließt. Eine Spur aus Schaum hinterlässt, die sich rasch auflöst. In der Weite des Meeres hält sie nicht länger als ein Augenzwinkern dauert. Dem Wasser macht es nichts aus, ob wir darauf fahren. Es weicht zur Seite, schließt sich erneut zusammen und beachtet uns nicht weiter. Wir sind nur ein winziges Ding, das auf seiner scheinbar unendlichen Oberfläche treibt. Darunter liegt eine gänzlich andere Welt. Der Wind hat nachgelassen, und obwohl die Segel gesetzt sind, kommen wir kaum voran. Die Wellen plätschern fast träge an den Bug und ich könnte mich in das unter dem Klüver befestigte Netz legen, ohne nass zu werden. Da sehe ich sie. Zuerst ist es nur ein Schemen, als hätte das Wasser plötzlich eine Form angenommen, sich irgendwie verdichtet. Dann erscheinen die Farben, als das Wesen höher aufsteigt. Der obere Teil ist geformt, wie eine Glocke. Nur nahezu durchsichtig. Daran befestigt ist ein Kranz aus langen Fäden wie durchscheinende Schnüre, die der Glocke hinterher treiben. Das ganze Oberteil pulsiert rhythmisch und schiebt den Rest des Körpers durch das Meer. Es wirkt unendlich grazil und elegant. Eine einzige, fließende Bewegung.
»Das ist Wasser mit einem Willen.«
Ich muss laut gesprochen haben, denn ich erhalte eine Antwort.
»Wasser mit einem Ziel ist eine der stärksten Kräfte, die es gibt. Und das Ziel ist immer das Gleichgewicht. Stabilität durch Bewegung, Ruhe im Fließen. Vergiss das niemals.«
Ich erstarre und halte den Kopf gesenkt. Ich weiß, zu wem diese Stimme gehört. Mael Laon. Seit dem Abend, als ich servierte, habe ich ihn nicht mehr gesehen und er hat auch nicht mehr nach mir verlangt.
»Was ist dein Ziel, in Aidris?«, fährt er mit ruhiger Stimme fort.
»Ich bin nicht frei, das zu entscheiden.«
Er lacht leise. »Entscheidet das Wasser, ob ein Schiff auf ihm fährt?«Ich bin nicht sicher, ob er auf diese Frage eine Antwort von mir erwartet. Vorsichtshalber schüttele ich lediglich den Kopf.
»Trotzdem hat alles Wasser ein Ziel. Kein Regentropfen sucht sich aus, wohin er fällt. Ein Bach wird von einem umgestürzten Baum blockiert aber das Wasser hat ein Ziel. Deshalb findet es einen Weg.«
Ich drehe mich um. Ich kann nicht anders. Will mir dieser Mann sagen, mit einem Ziel könnte ich einen Weg finden, meiner Gefangenschaft zu entgehen?
»Was, wenn mein Ziel Freiheit wäre?«
Er hebt die Brauen und ich senke rasch den Blick. »Lerne vom Wasser. Und finde den Weg.«
Damit lässt er mich stehen.Mir bleibt nicht allzu viel Zeit, um über seine Worte nachzudenken. Über die Natur bestimmen nur die Götter. Über mich der Koch und der will, dass ich heute das restliche Gemüse putze. Ich soll die faulen Zwiebeln auslesen und das verbliebene Brot so sortieren, dass die besten Laibe auf dem richtigen Tisch landen. Inzwischen haben einige von ihnen bläulich weiße Flecken bekommen, die man den Offizieren nicht zumuten will. Der Rest der Besatzung erhält, um es aufzubrauchen, Brotsuppe. Zusätzlich müssen die Küche geputzt und drei Mahlzeiten für die Besatzung zubereitet werden. Außerdem erhalten heute alle Matrosen eine abgemessene Menge Araké. Ein Getränk, das mir schon die Tränen in die Augen treibt, sobald der Koch das Fass öffnet. Ich habe meine Ration Petyr versprochen. Dem Diener, der mir beim Servieren die guten Tipps gegeben hat. Meine letzte Ration ebenfalls. Er trinkt sie nicht selbst, sondern tauscht sie für andere Gefälligkeiten ein. Mir bringt er eine der Sprachen bei, die in Aidris gesprochen werden. Die der Hauptstadt sagt er. Es ist die Einzige, die er kennt. Er selbst kommt wie ich aus Andoran. Auch vorher war er Diener im Haus Savren und nun ist er mit seinem Herrn unterwegs und stolz darauf. Er nennt ihn niemals bei seinem Titel, Mler d' Eartha, sondern immer bei seinem Hausnamen. Laon dei Savren, sobald er über ihn spricht. Er scheint ein guter Herr zu sein. Fair, streng und sehr anspruchsvoll. Mit seiner Geduld ist es ebenfalls nicht allzu weit her, bekomme ich aus ihm heraus. Ihn auf das anzusprechen, was dieser Mann in Andoran getan hat, wage ich nicht. Ich nehme mir allerdings vor ihn zu fragen, ob er weiß, was Mael Laon mit uns vorhat. Er hat sicher ein Ziel. Wie das Wasser. Wenn ich mir jemanden vorstelle, der diese Kraft beherrscht, ist er es. Laon dei Savren hat Andoran überrollt wie eine Flut. Wie die Echa, die nach der Schneeschmelze im Gebirge ganze Landstriche überschwemmt.
Das Wasser, mit dem ich den Boden schrubbe, hilft mir, indem es zuerst in die kleinsten Ritzen kriecht und den Schmutz hervorquellen lässt. Danach nimmt es ihn mit in das Tuch, mit dem ich aufwische. Welches Ziel hat es? Ich komme nicht umhin zu beobachten, wie es auf dem Boden verläuft. Die kleinen Unebenheiten füllt, sich an flacheren Stellen ausbreitet und in den Spalten zwischen den Dielen schneller wird. Wie ein Miniaturfluss. Ob es dasselbe Ziel kennt? Gleichgewicht? Ich gebe etwas auf den Boden, fahre mit dem Finger hindurch. Dann fühle ich es. Den Drang zu fließen, sich auszubreiten ... Zum niedrigsten Punkt. Nach unten. Ich spüre die Kraft, der es gelingt durch beharrliche Arbeit ganze Berge zu zermahlen, um ans Ziel zu gelangen. An die tiefsten Punkte der Welt, um dort hineinzufließen und sie auszufüllen. Unwillkürlich schnappe ich nach Luft. Was ich da spüre, ist nicht mehr nur die kleine Pfütze vor mir auf dem Boden. Ich bin vom Meer umgeben. Das Schiff ist nichts gegen die Kraft, die darin schlummert, der Ozean kann es innerhalb eines Lidschlags zerdrücken. Vorausgesetzt, es wäre sein Ziel. Oder ein Ziel, das ich ihm gebe? Ich finde keinen Willen im Wasser aber, ich sehe, wie ich ihm meinen leihen kann. Es ist nicht wie beim Feuer, das da ist, und das ich nur freilassen brauche. Hier muss ich den ersten Schritt tun, mich mit ihm verbinden ...
»Bevor du unser Schiff versenkst und dich in dem Prozess wahrscheinlich umbringst, rate ich dir zunächst weiter zu beobachten.«
Ich springe vor Schreck auf und stoße dabei den Eimer um. Der Inhalt ergießt sich über den Boden. Einen Moment später falle ich auf die Knie und senke den Kopf. Mael Laon steht in der Tür, den Mund spöttisch verzogen. Jetzt allerdings wird seine Mine kalt und seine Augen durchbohren mich geradezu.
»Ich habe dir den Auftrag gegeben, das Wasser zu beobachten. Nicht es zu lenken. Dafür bist du nicht ausgebildet.« Er mustert mich mit leicht schräg gelegtem Kopf. »Ich werde mich in diesem Punkt nicht wiederholen.«
Damit dreht er sich um und geht. Ich beginne rasch aufzuwischen. Sobald der Koch aus dem Lagerraum zurück ist, wird er einen sauberen Boden erwarten.
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Vea: Der Anfang von allem
FantasyVea Ihr größter Wunsch wird zum Alptraum, als er sich erfüllt. Ihre größte Sehnsucht verkehrt sich ins Gegenteil. Und doch beginnt an dieser Stelle ihr neues Leben. Weltensplitter bezeichnet eine mit diesem Splitter beginnende Sammlung von Spin off...