Übelkeitsattaken und 97 Sterne

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Entgegen meiner Erwartung hatte ich nicht wirklich Ärger bekommen. Dad hatte mich zwar noch weiterhin wütend angestiert, aber eine Standpauke hatte es nicht gegeben. Wahrscheinlich hatte Mum ihn vorher darum gebeten. Sie schaffte es einfach immer meinen Vater dazuzubringen sie wenigstens ein bisschen zu beruhigen.

Als wir im Auto nach Hause fuhren herrschte eisige Stille und da ich auch nicht vorhatte diese zu brechen, kramte ich aus meiner Tasche mein Handy und Kopfhörer und schaltete die Musik auf volle Lautstärke an.

Draußen vor dem Fenster zogen die glänzenden Hochhäuser vorbei, alle neu und modern ausgestattet, bis auf die letzte Wohnung waren alle verkauft oder vermietet.
Ich seufzte. Früher musste es hier so viel schöner ausgesehen haben, alt aber doch neu, mit einem Herzen. Diese neue Stadt, die sich vor mir erstreckte war dagegen kalt und blass.

Wenn man ganz genau hinsah, konnte man immer noch die Trümmer der alten Häuser finden, aber sie waren gut versteckt. Keiner wollte mehr Anzeichen für den verlorenen Krieg sehen, über die vielen Toten wurden einfach geschwiegen. Oder genau genommen schwieg die Regierung darüber. Im Untergrund sprach man darüber, aber nur an den abgelegensten Stellen, wo man sich sicher sein konnte, dass man nicht abhört wurde und eigentlich konnte man sich da nie sicher sein.

Überall waren Kameras und Microfone angebracht, die einzig und allein dazu dienten, die Menschen davon abzuhalten, Informationen, die die obersten Politiker geheim halten wollten, zu verbreiten. Ich hatte schon oft miterlebt, dass Personen aus meiner Umgebung einfach verschwanden und obwohl es keiner ausprach, wussten alle, dass diese nie wieder zurückkommen würden. Sie hatten Geheimnisse ausgeplaudert und dafür wurden sie bestraft, wahrscheinlich mit dem Tod.

Mir kroch eine Gänsehaut über die Arme, als ich wie schon so oft das Bild von baumelnden Skeletten vor mir sah. Auf dem Platz genau in der Mitte der Stadt, dort hingen sie und ich war mir sicher, dass diese Toten nicht nur einfache Verbrecher wie Diebe gewesen waren.

Ihre Gesichter waren meistens bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, auf der blassen Haut traten die tiefroten Striemen noch mehr hervor. Einige hatten mehrere Schusswunden sowohl im Oberkörper, als auch in den Beinen, andere waren gehäutete worden und bei jedem Windstoß schaukelten die Körper quietschend an ihren Seilen.

Allein bei der Vorstellung wurde mir wie jedes mal schlecht.
Diese schrecklich bizarre Darstellung diente nur zur Abschreckung, mahnte, dass einem genau das selbe passieren könnte. Bei den meisten half es, sie hielten sich bedeckt und ruhig, kämpften nicht gegen die Regierung an. Diejenigen, die sich dennoch trauten, auch nur eine klitzekleine abfällige Bemerkung von sich zu geben, hingen am nächsten Tag, genauso zugerichtet wie ihre Vorgänger, auf dem Platz, wo jeder sie sehen konnte.

"Elena, wir sind da!"
Mums Stimme ließ mich aufschrecken. Das Auto hatte vor dem Hochhaus gehalten, in dem sich unsere Wohnung befand und meine Eltern starrten mich beide vom Vordersitz an.

Ich war in zweierlei Hinsicht froh endlich da zu sein. Einerseits war mir schon alleine beim Gedanken an die Leichen schlecht geworden und außerdem hielt ich die Stille im Auto einfach nicht mehr aus.

Hastig riss ich die Tür auf und stolperte nach draußen an die frische Luft. Ohne mich noch einmal nach meinen Eltern umzusehen, verschwand ich im Eingang des Hauses und fuhr mit den Fahrstuhl nach oben.

Zum Glück begegnete ich auf dem Flur draußen vor unserer Wohnung keinem unserer Nachbarn.
Ich hatte im Moment absolut keinen Nerv mich mit irgendwem von den Pappnasen über das Wetter oder die Schule zu unterhalten und darauf würden solche Gespräche unweigerlich hinauslaufen.

Als ich in meinem Zimmer verschwand und die Tür fest hinter mir schloss, hörte ich meine Eltern auch die Wohnung betreten. Sie unterhielten sich leise miteinander und wahrscheinlich verschwanden sie jetzt in der Küche, um das Abendessen vorzubereiten.

Ich seufzte erleichtert und ließ mich auf mein Bett fallen. Wenn sie ohne mich anfingen, hieß das, dass ich nicht helfen musste.
Vielleicht hörten sie tatsächlich auf den Arzt und der hatte gesagt, dass ich mich ausruhen sollte.
Oder sie wollten einfach nicht, dass ich ihr Gespräch mithören, was ich viel wahrscheinlicher fand, denn die beiden hielten absolut nichts von Ärzten, egal um was es ging.

Das letzte Mal, als ich beim Arzt gewesen war, hatte ich eine schwere Lungenentzündung gehabt und das war geschlagene 6 Jahre her.
Meine Mutter hortete in einem Schrank im Bad lauter selbst gemischtes Kräuterzeug, das gegen fast alle Krankheiten half - außer einer Lungenentzündung natürlich - und deswegen galten Arztbesuche als eine Seltenheit bei uns.

Ich verstehe ehrlich gesagt nicht so ganz, was die beiden gegen "das Pack", wie sie immer so liebevoll sagten, hatten, aber gut, jedem das seine.

Nachdenklich verschränkte ich die Hände hinter dem Kopf und starrte die Decke an.
Vor etwa 10 Jahren hatte ich begonnen an Tagen, an denen etwas besonderes passiert war, jeweils einen neuen Stern aufzuhängen und im Laufe der Zeit war daraus eine kleine Sammlung geworden. Ich zählte sie fast jeden Abend, auch wenn ich genau wusste wie viele es waren. 97.

Anfangs hatte ich fast bei jeder Kleinigkeit einen Stern aufgehängt, aber irgendwann hatte ich über die Hälfte wieder abgehängt, weil ich nicht einmal mehr wusste für was sie standen. Jetzt wusste ich genau, wofür jeder einzelne stand.

Der erste für den Tod meiner "richtigen" Eltern.
Der zweite für meine Adoption.
Der dritte für meinen unglaublich tollen und wunderschönen ersten Geburtstag mit einer neuen Familie.
Und so weiter und so weiter.
Ich hatte eine Liste angelegt und sie unter meinem Bett versteckt.
Sie war meine andere Art von Fotobuch.
Ich betrachtete noch einmal die Sterne und kicherte. Zeit einen neuen aufzuhängen.
Immerhin war ich heute so dumm gewesen und war durch meinen eigenen Streich außer Gefecht gesetzt worden. Nicht zu vergessen: ich war beim Arzt gewesen!

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