Kapitel 7 ~ Man sieht die Stadt mit anderen Augen #5

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Der Hügel war tatsächlich nicht übermäßig hoch. Trotzdem war die Aussicht die Anfahrt auf jeden Fall wert gewesen. Hier oben gab es zwar keine befestigte Aussichtsplattform, aber das schmälerte den Blick nicht. Mir wurde jetzt erst wirklich klar, dass Clayton tatsächlich von Hügeln umgeben war. Bisher waren mir immer nur die weiten Felder aufgefallen, die die Stadtränder säumten. Auch wenn ich noch nicht sonderlich oft dort gewesen war. „Wenn die Sonne scheint ist es schöner", sagte Jason, als er sich einige Meter weiter auf eine Picknickbank setzte. Von hier wirkte der Flughafen verschwindend klein, die Lichter der Flugzeuge leuchteten in der Dämmerung des anbrechenden Abends.

Um ehrlich zu sein, hatte ich ansonsten überhaupt keinen Orientierungspunkt. Stirnrunzelnd suchte ich nach dem Schulgebäude, aber ich fand es nirgendwo. „Kannst du mir zeigen, wo du wohnst?" Ich drehte mich zu ihm um. „Ich dachte, das wüsstest du inzwischen." Als er mir zuzwinkerte, errötete ich leicht, aber es dürfte nicht extrem genug gewesen sein, als dass er es bemerken hätte können. Ich war zwar keine gute Schauspielerin, aber ich versuchte trotzdem mein Verhalten so freundschaftlich wie nur möglich zu gestalten. Natürlich hatte ich andere Dinge im Kopf, aber ich wusste auch, dass er wieder einen Rückzieher machen könnte, wenn ich in etwas hineindrängte.

„Von hier oben kann ich die Hausnummer leider nicht erkennen", klagte ich mit einem ironischen Unterton. Der Schalk blitzte in seinen Augen auf, als er spielerisch nach mir schnippste. „Vielleicht solltest du zum Augenarzt, wenn du so schlecht siehst." Ich streckte ihm lachend die Zunge raus: „Anstatt mich zu ärgern solltest du mir jetzt lieber zeigen, wo ihr wohnt!" Eine Böe zerzauste meine Haare, die ich daraufhin ungeschickt zu einem Pferdeschwanz zusammenband. „Na gut, also pass auf." Er zeigte mit dem Finger auf eine bestimmte Stelle, aber auch nachdem ich die nähere Umgebung mit den Augen abgesucht hatte, war mir kein Haus aufgefallen, das ich für das von Jasons Oma gehalten hätte. Angestrengt starrte ich auf die Stelle, aber ich fand es einfach nicht. „Ich sehe es nicht", murmelte ich etwas frustriert. Jason stellte sich direkt hinter mich und ich bekam Angst, er könnte das unrhythmische Schlagen meines Herzens hören.

Er wollte mir doch nur ein Haus zeigen, warum war ich bloß so aufgeregt? Ich versuchte mich so gut es ging zu beruhigen, dachte an Waldis feuchten Kuss und alles möglich, nur um mich abzulenken. Aber es funktionierte herzlich schlecht. Da war trotzdem noch seine Nähe, die mich komplett verrückt machte, ob ich es nun wollte, oder nicht. Als er seinen Kopf auf meiner Schulter abstützte, lief es mir warm und kalt den Rücken hinunter. Ich biss mir unsanft auf die Lippe, um jetzt ja nichts Falsches zu tun oder zu sagen. Wieder streckte er den Arm aus und zeigte auf eine Stelle. Sie war ein ganzes Stück von dem Ort entfernt, an dem ich zunächst gesucht hatte. Es dauerte nicht lange, bis ich es gefunden hatte. Und als es soweit war, entfernte ich mich möglichst schnell von ihm. Es war nicht so, dass ich seine Nähe genoss, sondern im Gegenteil, ich hatte die Befürchtung, dass ich irgendwann noch seinetwegen anfing zu sabbern. Gemeinsam packten wir das Essen aus, das in seiner Styropor-Verpackung schön warm geblieben war.

Die gebratenen Nudeln waren das Beste, das ich seit langem in den Mund genommen hatte. Genüsslich seufzte ich, als ich mehr davon in meinen Mund schaufelte. Über den Geschmack vergaß ich meine guten Manieren komplett und so sah ich aus, als wollte ich einen Esswettbewerb gewinnen. Jason und ich aßen schweigend, bis eine einzelne Nudel auf meiner Stirn landete. Als ich ihn ansah, grinste er mich nur unschuldig an und brach dann in schallendes Gelächter aus. Ich nahm die Nudel, wischte mir die Soße aus dem Gesicht, die daran geklebt hatte und schleuderte sie auf ihn zurück. Sie traf ihn an der Brust, woraufhin er so tat, als wäre er von einer Kugel getroffen und sich rückwärts von der Bank fallen ließ.

Für einen kurzen Moment machte ich mir Sorgen, er könnte sich dabei verletzt haben, aber das unterdrückte Lachen überzeugte mich vom Gegenteil. Ich beugte mich über den Tisch, um ihn auf dem Boden liegen zu sehen, die Hände über seinem Herzen verschränkt. „Es geht mit mir zu Ende", keuchte er, was ihm sichtlich schwerfiel, ohne komplett aus seiner Rolle zu fallen. „Die Nudel hat mich direkt getroffen." In aller Seelenruhe stand ich auf, während ich mein Essen weiter aß. Langsam umrundete ich den Tisch. „Er ist für einen guten Zweck gefallen", rief ich laut und fiel neben ihm auf die Knie. „König Nudelholz wird dir auf ewig dankbar sein." Ich musste mich zusammenreißen, um nicht sofort loszulachen.

Jason krümmte sich, als hätte er einen schlimmen Krampf: „Sag den Fusilli, dass ich sie liebe." In einem letzten dramatischen Moment zuckte er zusammen, dann sank sein Kopf zur Seite und er regte sich nicht mehr. Wir hielten es etwa zwei Sekunden aus, bevor wir in unhaltbares Lachen ausbrachen. Ich schüttelte mich, so sehr musste ich lachen. „König Nudelholz", platzte Jason hervor und wischte sich mühsam die Lachtränen aus den Augenwinkeln. Plötzlich ernst sah ich ihn an: „Hast du etwa etwas gegen deinen König?" Beruhigend tätschelte er meine Schulter, was eine warme Vibration durch meinen Körper schickte. „Natürlich nicht. Ich bin sein treuer Untergebener, Herr von Lasagne." Als er aufstand, reichte er mir eine Hand. „Darf ich bitten, Fräulein Tagliatelle?" Ich nickte vorsichtig und ergriff seine Hand, die mir vom Boden aufhalf.

Sie fühlte sich warm an und ich hatte das Bedürfnis, sie länger zu halten, als es nötig gewesen wäre. Mit einem nervösen Räuspern entzog ich ihm meine Finger. Wir kehrten zu unserer bisherigen Aktivität zurück und aßen weiter. Ich war schon fast fertig, als ein dicker Regentropfen auf dem Holztisch landete. Gleichzeitig schauten wir in den Himmel. Ein weiterer Tropfen landete auf meiner Nase. „Ich glaub das fängt gleich richtig an", sagte Jason. In jeder anderen Situation hätte ich nach einem Unterschlupf gesucht, in dem ich trocken geblieben wäre, aber jetzt war es anders. Es kümmerte mich nicht, ob ich durchnässt werden würde. Außerdem war es noch viel zu früh, dieses Date, falls es denn eines war, enden zu lassen.

Ich nahm eine weitere Nudel und warf sie nach ihm. Belustigt stellte ich fest, dass sie in seinem Ausschnitt gelandet war. Er sprang auf und ich ahmte seine Bewegung nach. „Na warte! Das bekommst du zurück!", rief er. Ich wusste, dass es eigentlich zwecklos war, vor ihm wegzulaufen, aber ich tat es trotzdem. Minutenlang jagte er mich über den Hügel, bis ich irgendwann atemlos aufgab. Ich stütze die Hände auf meine regennassen Knie. Es hatte tatsächlich richtig angefangen aus allen Wolken zu gießen, aber es konnte mir gar nicht egaler sein. Meine Haare klebten mir nass am Kopf und ich atmete, als hätte ich seit Wochen keinen Atemzug mehr getan. „Hab dich."

Er schlang die Arme um mich und hob mich hoch, als wäre ich eine Trophäe. Selbst jetzt, wo ich körperlich komplett am Ende war, schaffte er es noch, mich aus der Fassung zu bringen. Wie überlebte Zoey das nur, wenn es bei ihr gleich doppelt so viele Jungs waren? Ich musste mir echt Tipps von ihr geben lassen. „Dafür hast du aber lange gebraucht", zog ich ihn auf. Trotz seiner Nähe, merkte ich, dass mir kalt wurde. Jetzt wo die Wärme durch die Bewegung fehlte, spürte ich auch die Auswirkungen der Nässe. Reflexartig schlang ich die Arme um meinen Oberkörper. Das hatte zur Folge, dass Jason seine Arme nicht mehr zurückziehen konnte, und wir in einer engen Umarmung gefangen waren.

Ich schluckte schwer, als ich bemerkte, wie sehr mein Körper auf ihn reagierte. Jede Berührung ließ ein Kribbeln zurück und ich hätte ihn wirklich nur zu gerne geküsst, aber daraus wurde wohl nichts. Je länger wir so dastanden, desto peinlicher wurde es, weshalb ich mich letztendlich gezwungenermaßen von ihm löste. Nachdem wir unsere Kleider so gut es ging ausgewrungen hatten, machten wir es uns auf dem Rücksitz von Jasons Wagen bequem. Das Prasseln des Regens war ein angenehmes Hintergrundgeräusch, während wir uns über alles Mögliche unterhielten. Es fühlte sich gut an, mit ihm zu reden. Einfach nur wir beide.

Obwohl es für mein Herz schon lange zu spät war, denn ich war Hals über Kopf in ihn verliebt, wollte ich meinem Verstand noch mehr Gründe liefer. Und er war so liebenswürdig, dass ich mit jedem Satz tiefere Gefühle für ihn entwickelte. Ich hatte keine Ahnung, wie es ihm dabei ging, und ob seine Gefühle genauso tief waren, aber ich wünschte es mir so sehr. Das war das blöde mit Wünschen; sie wurden nicht immer wahr, aber sie bestimmten unser Handeln mehr, als wir es uns eingestehen wollten.

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I won't let you hurt me againWo Geschichten leben. Entdecke jetzt