Ich wachte rechtzeitig auf. Meine Augenlider waren unheimlich schwer, meine Finger kalt, aber längst nicht so erfroren wie in der ersten Nacht.
Ich gab Luk einen Schubser, der noch schlief. „Hauen wir ab", meinte ich nur und ging entschlossenen Schrittes zu dem Drehkreuz. Verschlafen folgte mir Luke und stolperte mehr oder weniger die Treppe hinauf. Von oben waren Stimmen zu hören, einige Leute standen am Kiosk, inzwischen hatte eine Frau die Schicht des Typen übernommen und kümmerte sich um die Kunden. Wir schlenderten durch die zwei oder drei Gänge und spähten zu der Frau, nachdem wir vor ein paar Süßigkeiten haltgemacht hatten. So unauffällig wie möglich packten wir vorsichtig ein paar Bonbons aus und steckten sie uns in den Mund. Ein paar weitere verschwanden in unseren Taschen. So schnell wie möglich suchten wir den Eingang auf und traten in die Kälte hinaus.
„Wir müssen warten, bis die Leute da rauskommen und fragen, ob sie uns mitnhemen."
„Okay", meinte ich und trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. So standen wir ein paar Minuten vor der Tür und warteten, als Luk plötzlich eine Hand gegen die Stirn schlug.
„Ich hab was vergessen!"
„Was denn?", fragte ich nach, doch Luk ignorierte mich. Mit einem flüchtigen „Warte hier" lief er nochmals in das Gebäude. Was hatte er denn liegen gelassen? Mir fiel ein, dass er am Vortag etwas Geld auf der Toilette versteckt hatte. Falls uns jemand berauben sollte, hätten wir nicht alles verloren. Daran hatte ich nicht mehr gedacht.
Ich ging ein paar Schritte um die Ecke und hielt mir den Magen, der vor Hunger schmerzte. Die Süßigkeiten hatten ihn nur daran erinnert, dass er ja auch was brauchte.
Plötzlich hörte ich Schritte hinter mir.
„Luuu...." Noch während ich mich umdrehte, heilt ich inne. Da war nicht Luk, sondern ein anderer Typ. Er war groß und hatte eine dicke Daunenjacke an.
„Haste ne Zigarette?", fragte er mich unfreundlich. Ich schüttelte nur den Kopf und wollte an ihm vorbei um zu sehen, wo Luk blieb.
„Glaub ich dir nicht", meinte der Typ und hielt mich fest. Mir kam kein Laut über die Lippen. Mit einem Ruck versuchte ich mich loszureißen. Ich war zu schwach. Der Typ griff nach meinem Rucksack. Er sog ihn mir unsanft von den Schulter.
„Lass", rief ich gedämpft und versuchte ihn mir wieder zu schnappen.
„Werd nicht frech", drohte mir der Mann mit tiefer Stimme. Er schubste mich weg. Ich prallte auf den Asphalt. Ich rappelte mich sofort auf, obwohl mein Bein und mein Hintern schmerzten. Der Typ wühlte inzwischen in meinen Sachen herum, ein Pullover fiel heraus und landete im Dreck, der Umschlag mit der Adresse hinterher. Ohne an meinen Rucksack oder die restlichen Sachen zu denken, hechtete ich verzweifelt dem Couvert hinterher. Es war mein einziger Anhaltspunkt. Ohne den Inhalt wäre ich verloren. Während ich mich bückte, versetzte der Mann mir von hinten einen Tritt. Erschrocken blieb auf dem Boden liegen. Ich wollte Schreien, aber ich konnte nicht. Auch meine Beine wollten sich nicht mehr bewegen.
Vor Benommenheit nahm ich gar nicht richtig wahr, dass Luk da war, den Typen von hinten wegzog und ihn zurechtwies, dass er mich in Ruhe lassen solle. Wütend wollte er auf Luk losgehen, doch der verpasste ihm einen Schlag. Dann sah ich meinen Rucksack, wie er neben mir auf dem Boden segelte.
„Lulu! Alles okay?" Ich konnte nicht reden, weil ich Angst hatte, die Tränen würden mir über den Rand meiner Augen laufen. Es fühlte sich wie ein Deja-Vue an. Schläge, Tritte, körperliche und am schlimmsten die seelischen Schmerzen, die damit verbunden waren. In meinem Kopf schrie mein Dad so laut, dass ich nichts anderes mehr hören konnte.
Noch geschockt sammelte ich meine Sachen auf und schmiss sie beinahe blind wieder in den Rucksack. Alles war schlammverschmiert. Auch das Couvert. Ich traute mich nicht, nachzusehen, ob noch alles lesbar war.

DU LIEST GERADE
weg
Short StoryEin gewalttätiger Vater. Eine unbekannte Mutter. Ein merkwürdiger Obdachloser. Ein 10-seitiger Roadtrip der Selbstrettung.