Teil 1

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Lauschend wartete ich. Auf dem Flur waren Geräusche zu hören. Eine Jacke, die angezogen wurde, ein raschelnder Schlüssel, der genommen wurde und das Rütteln an der klemmenden Tür. Dann fiel die Haustür ins Schloss. Sofort stürmte ich aus dem Badezimmer und lief in mein Zimmer. Meine Hände zitterten, vor Aufregung, Angst und Anspannung. Ich hatte genug Zeit. Aber je früher ich begann, desto weiter würde ich kommen, bis er wieder nach Hause kam.

Hektisch warf ich ein paar Kleidungsstücke aus meinem Schrank in einen Rucksack.

Schnell riss ich eine Schublade auf und holte ein Couvert unter den Socken hervor. Dieses und noch ein bisschen etwas zu essen und trinken stopfte ich in den Rucksack und verschloss diesen dann. Bevor ich ging, legte ich noch meinen Schlafanzug aufs Bett und legte ein paar alte Zeitschriften auf den Schreibtisch, um den Anschein zu erwecken, alles wäre normal. Den Schlüssel schmiss ich in den Mülleimer.

Schließlich zog ich mir meine Schuhe an und eine dicke Jacke über. Dann verließ ich die Wohnung, hastete die Treppe hinunter und trat auf die Einbahnstraße. Mich hatte niemand gesehen.

Nur mit den wichtigsten Dingen und einer Adresse in der Hosentasche machte ich mich auf den Weg.

Schnellen Schrittes machte ich mich auf zum Bahnhof. Es war kalt. Zu Kalt für Anfang März, aber das hatte ich nicht planen können. Ich konnte es nicht mehr aufschieben. Das tat ich schon viel zu lange.

Damit mich niemand erkannte, zog ich mir die Kapuze meiner dunkelblauen Sweatshirtjacke, die ich unter meinem Anorak trug, über den Kopf.

Am Bahnhof löste ich ein Ticket und stieg in den Zug, der mich weit weg brachte.

Es war wie eine Erlösung, als dieser sich in Bewegung setzte. Der Waggon, in dem ich mich befand, war fast leer.

Ich ließ mich auf einem Platz nieder und kramte den Umschlag hervor.

150 Euro lagen darin. Alles, was an an Geld hatte. Und eine Karte. Kein Ausweis oder Kreditkarte. Das alles hatte er mir weggenommen.

Ich klappte die Karte auf. Die Vorderseite zeigte Deutschland. Einige Städte und Dörfer waren markiert. Auf der Rückseite hatte ich mir die genauen Abfahrtszeiten von verschiedenen Bussen und Zügen aufgeschrieben. Wenn alles glatt lief, würde ich bis heute Abend nach Bremen kommen, wo ich die Nacht verbringen könnte. Ich wünschte ich hätte einfach einen Direktzug nehmen können. Zu teuer, ich hatte nicht genug Geld. Deswegen musste ich mich mit Alternativen durchschlagen, auch wenn es umständlich war und mindestens dreimal so lange dauern würde.

Alles nur grobe Schätzungen. Ich hoffte aber, dass es so klappte, da ich schon seit Wochen plante.

Wenn ich morgen früh von Bremen wegkam, wäre das Optimal. Ich hatte ihm gesagt, ich würde bei einer Freundin übernachten, mit ihr noch ein Schulprojekt beenden und erst mittags wieder kommen. Es gab keine Freundin, auch kein Schulprojekt. Nur durch diese Ausrede hatte ich genügend Zeit, um ihm zu entkommen. Meinem Vater. Dem Mann, der mich schikanierte, der mich anschrie und verprügelte und einsperrte. Tag für Tag. Es war pures Glück, dass er mich gerade heute zu einer Freundin gelassen hat. Normalerweise musste ich nach der Schule immer sofort nach Hause. Wie naiv er war, dass er dachte, ich hätte Freundinnen, bei denen ich übernachten konnte.

16 Jahre lang ging das schon so. Meine Mutter kannte ich nicht. Meinem Vater zufolge eine Prostituierte, die sich nach mir, einem Unfall, einfach verzogen hatte, froh, sich nicht mit mir herumschlagen zu müssen. Er hatte mich aufgenommen und geliebt. Das sagte er mir. Ich glaubte es ihm nicht. Er konnte mich nicht lieben. Ich war lediglich ein Fußabtreter, wenn er abends betrunken nach Hause kam, weil seine blonde Mittzwanzigerin wieder Schluss gemacht hatte oder wenn er Stress in der Arbeit hatte.

Eines Tages war er mit einer Frau nach Hause gekommen. Sie war langbeinig und hatte Extentions. Sie hatten sich schon länger getroffen und ich hatte sie immer beobachtet, wie sie in seinem Zimmer verschwunden waren. Anfans schienen sie noch verliebt zu sein, aber von Woche zu Woche war mir die junge Frau, die mir als Tina vorgestellt worden war, verbitterter vorgekommen. Teilweise hatten sie und mein Dad sich in der Küche angeschrien, sich regelrecht gefetzt. Ich hatte nicht gesehen, was er genau gemacht hatte, aber eines Tages jedenfalls kam Tina in mein Zimmer. Nur kurz. Ich hatte sie immer für ein billiges Flittchen gehalten, die sich an ältere Männer ranschmiss, aber das hatte sich binnen weniger Sekunden geändert.

Sie hatte mich angesehen und gesagt: „Ich bin keine Schlampe oder sowas. Ich hab schon eine Menge Männder getroffen, denen ich nichts wert war. Ich hab echt gedacht, das mit deinem Dad wär was. Aber ich bin schlau genug, um zu wissen, wann Schluss ist.“ Ich hatte nichts darauf gesagt. Ich war einfach dagesessen und hatte sie angestarrt. „Weißt du. Ich war mal verheiratet, mit einem richtigen Schwein. Vier Jahre. Nach dem ersten wusste ich, dass er ein Schwein ist. Die nächsten drei Jahre hab ich nichts getan und es mir einfach gefallen lassen. Es war die Hölle und ich hab daraus gelernt. Warte nicht darauf, dass du gerettet wirst, denn dann kannst du lang warten. Fang mal an, dich selbst zu retten.

Ich bin weg.“

Sie war gegangen und ich hatte sie nie wieder gesehen. Und dann begann ich, mich selbst du retten, vor dem nach Alkohol stinkendem Monster, das mir so oft wehtat, körperlich wie geistig.

Ich hatte begonnen, zu recherchieren, woher ich kam, wer ich war und wo ich daheim war. Als mein Vater einmal spätabends betrunken nach Hause gekommen war, hatte ich versucht, ihn auszufragen. Wie sicher diese Quelle der Information war, wusste ich nicht, jedenfalls hatte es sich als eine gute Taktik herausgestellt, meinen Vater auszufragen, wenn er betrunken und einigermaßen gut drauf war. Einige male war es schief gegangen, aber ich hatte einiges erfahren. Meine Mama war Österreicherin und lebte nahe der Deutschen Grenze. Sowohl er als auch meine Mama hatten eine Sightseeing-Tour durch Wien gemacht und hatten sich so getroffen und kennen gelernt. Das Wort Liebe hatte er nie in den Mund genommen. Nach seinen Angaben hatten sie sich nur wenige Wochen lang getroffen, dann hatte sie sich nach meiner Geburt wegen ihres Mannes, mit dem sie verheiratet gewesen war, getrennt. Da kam ein uneheliches Kind schlecht. Das Wort Prostituierte hatte er in betrunkenem Zustand nie in den Mund genommen, und von den Geschichten, die ich gehört hatte, konnte ich es mir nicht vorstellen, dass sie in der Branche tätig war, beziehungsweise tätig gewesen war. Ich wusste es, tief im Inneren. Sie hieß Annemarie. Ihren Nachnamen kannte ich nicht, aber ich kannte ihre Adresse. Dad hatte ein paar Briefe aufbewahrt. Sie lagen zwischen seinen tausend Aktenordnern versteckt. Nur durch Zufall hatte ich sie gefunden. In den Briefen hatte meine Mama geschrieben, er solle sie in Ruhe lassen und nicht mehr belästigen. Ein Couvert war aber nicht von meiner Mama. Es war ein Brief an sie gewesen, einer, den er nie abgeschickt hatte. Sorgfältig hatte ich die Adresse meiner Mama abgeschrieben und begonnen, im Internet nach billigen Zugverbindungen zu suchen.

Und jetzt saß ich hier, während mir vor lauter Nervosität das Herz bis zum Hals klopfte. Es könnte so viel passieren. Er könnte merken, dass ich nicht bei einer Freundin war, er könnte aber auch bis morgen Mittag warten und sich dann wundern, warum ich nicht kam. Sein wutverzerrtes Gesicht tauchte vor meinen Augen auf. Wie er mich anschrie, warum ich gegen seine Regeln verstoße, warum ich weglief und dann seine Hand. Ich fühlte förmlich den Schmerz in meinem Gesicht, obwohl es nur Einbildung war. Schnell verdrängte ich die Gedanken und versuchte, mich auf anderes zu konzentrieren.

Ich musste mehrmals umsteigen. Die Bahnhöfe waren mir unbekannt, ich war nie so richtig aus Hamburg herausgekommen. Jedenfalls nicht mit dem Zug.

Es dämmerte schon, als auf dem kleinen Anzeigetäfelchen der Bremer Hauptbahnhof angezeigt wurde.

Frei. Frei. Ich war frei.

Wieder mit meiner Kapuze getarnt verließ ich den Bahnhof und begann, ziellos durch die Stadt zu laufen. Ich hatte null Orientierung, mein Magen knurrte und ich war totmüde. Es war stockdunkel, es war um 22 Uhr abends, als ich die Suche nach einem sicheren und einigermaßen warmen Schlafplatz aufgab. Völlig erschöpft kauerte ich mich auf einer Bank in der Fußgängerzone zusammen. Zitternd vor Kälte fiel ich einen unruhigen Schlaf.

„Hey!“

....

Fortsetzung folgt...

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