Fünf

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Die Schreie der Neo-Nazis hallten durch den Fernsehturm wie das Heulen verlorener Seelen. Als Freya mit den Männern fertig war, waren von ihnen nur noch blutige Knochen übrig. Die Furie schlang einen letzten Bissen salzigen Fleisches herunter und merkte, wie das Tierhafte in ihr sich in den Abgrund zurückzog. Gesättigt, für den Augenblick. Ein Teil ihrer Menschlichkeit etablierte sich wieder und mit ihm kam der Schmerz.

Zögerlich drehte sie sich dem Leichnam ihres Liebsten zu. Fürchtete, dass sie auch ihn in ihrem Rausch zerfleischt hatte, so wie einst ihre Eltern, doch zu ihrer Erleichterung lag Anton da wie er gefallen war. Sie weinte jämmerlich, als sie zu ihm herüber kroch und würgte, als ihr klar wurde, was sie getan hatte. Fetzen von Fleisch und Haut bedeckten den Boden, dazu Knochen, die sie aufgebrochen hatte um an das Mark zu kommen. Überall war Blut. Es tropfte von der Decke, floss von den Wänden und bildete schleimige Pfützen. Die Luft, klamm und bitter, stank nach Tod und namenlosem Terror.

Sie konnte hier nicht bleiben. Wollte hier nicht sterben. Nicht so. Nicht in diesem Schlachthaus.

Gestärkt von ihrem Mahl hob Freya den kopflosen Körper Antons mühelos auf und hielt ihn sanft in ihren Armen, fast wie ein schlafendes Kind. Sie schluchzte und blinzelte die Tränen hinfort. Der Gedanke, dass sie sich nie wieder in Antons warmen Augen verlieren würde, ihm nie wieder über die Wange streichen konnte, machte sie fast wahnsinnig.

Ein Wehklagen entrang sich ihr und hallte durch den Turm wie die Schreie ihrer Opfer zuvor. Sie rannte los. Raus. Sie musste raus! Nur weg hier. Die Sicherheitstür zum Treppenhaus hielt ihrer Wut nur einen Moment stand, dann eilte sie die Stufen hinauf als wären die Dämonen der Hölle selbst hinter ihr her. Sie wusste, dass ihre Zeit so gut wie abgelaufen war.

Fünf Minuten später fand sie sich schwer atmend auf der Wartungsplattform unter der Spitze des Sendemasts wieder, dem höchsten Punkt des Turms. Der Nachtwind liebkoste ihre blut- und schweißnasse Haut mit eiskalten Fingern, er trug nur wenig von der Hitze und Asche des Infernos das die Stadt verschlang. Berlin breitete sich einer gewaltigen Landkarte gleich unter ihr aus. Die Millionen-Metropole brannte wie ein Ameisenhaufen unter dem Vergrößerungsglas eines grausamen Kindes und einer gleichgültigen Sonne. Bald jedoch würde das Leid enden.

Sie weinte noch immer – bittere Tränen, angereichert von einem Leben voller Angst, Trauer, und Sorge. Sie verfluchte die Welt und ihre Götter. Was hatte ihre Existenz ihr gebracht außer Schmerzen? Nicht einmal ein gemeinsames Ende mit ihrem Liebsten war ihr vergönnt gewesen ...

Sie schrie ihre Wut in den Himmel, beruhigte sich jedoch schnell. Dort oben war niemand. Kein Gott, der von ihrem Leid und ihrem Trotz Kenntnis hätte nehmen können. Nur das All – endlos und kalt – und vielleicht die Killersatelliten der Supermächte, deren Anführer aus der Sicherheit ihrer Bunker die Todeszuckungen der Welt beobachteten.

„Seid verflucht", flüsterte Freya und starrte trotzig in den Nachthimmel.

Letztendlich jedoch wand sie sich ab und legte den Körper Antons gegen den Pfeiler des Sendemastes. Es war hier gewesen, vor fünf Jahren, da er sie gerettet hatte. Eine Selbstmörderin kurz vor dem Sprung und ein junger Wachmann auf seinem Nachtschichtrundgang. Ein Mensch und ein Monster. Nur hatte er sie nicht als solches gesehen, auch als sie ihm unter Tränen erzählt hatte was sie war, was sie getan hatte. In seinen Augen war weder Hass noch Abscheu gewesen, nur Mitgefühl und der Beginn von etwas, dass sich als die Liebe ihres Lebens herausstellte.

Sie schluchzte. Der Tod würde eine Erlösung sein.

Freya setzte sich nieder und schmiegte sich vorsichtig an Anton um Schutz vor dem Wind und der Trauer zu finden. Sein Körper war noch immer warm mit einem Hauch von Leben. Sie ließ ihren Kopf gegen seinen Brustkorb sinken, zog ihre Beine an und schloss seine Arme um sich.

Ihre eisblauen Augen wanden sich den Feuern zu. Ganze Stadtteile standen in Flammen und noch immer wurden die Schreie von Tausenden auf den Winden getragen. Ein Bildnis der Hölle, dem dennoch eine gewisse malerische Lieblichkeit innewohnte.

„Es liegt Schönheit in Vernichtung", flüsterte Freya geistesabwesend.

Würde es Überlebende geben, nachdem die Bomben ihr Werk getan hatten? Falls ja, hoffte sie, dass diese klüger und gütiger sein würden, als diejenigen, welche vor ihnen kamen. Hoffte, dass die Erben dieser Welt vor allem mutiger sein würden. Mutig genug, um keine Angst vor dem Unbekannten zu haben.

Denn mit der Angst kam Hass und mit Hass kam Vernichtung.

Freya erblickte etwas helles, einer Sternschnuppe gleich, die über den Himmel zog und auf die Stadt zufiel. Erlösung. Sie lächelte und wünschte den Überlebenden Glück.

Sie würden es brauchen.

Ein Licht, heller als tausend Sonnen, erstrahlte über Berlin.

Eswar das letzte was Freya je sah ...    

GötterdämmerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt