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Die Tür wird aufgestoßen. Ich wirbele herum und sehe Wilma mit gesenkten, sorgenvollen Blick an mir vorbei zum Tisch gehen. Sie nimmt mich überhaupt nicht wahr.
Erst als ich mit einem Skalpell aus Versehen an den Tisch stoße, blickt sie mich an.
„Oh, entschuldige!", Wilma reibt sich die Schläfe. „Du glaubst nicht, was gerade eben passiert ist! Da war- ".
Die Tür wird erneut aufgestoßen und zwei junge Ärzte mit Mundschutz schieben eine Trage mit dem weißen Mann hinein.
Ich kann meinen Blick nicht mehr losreißen. Jetzt weiß ich, warum man keine Lippen erkennen konnte. Sie sind zusammengewachsen, genau wie die Nasenlöcher. Nur noch ein heller Strich markiert die Stelle der Mundöffnung.
Wilma muss mein entsetztes Gesicht gesehen haben, sie schiebt mich sanft an der Schulter wieder zu meinem kleinen Tisch.
Dankbar greife ich nach einer Schachtel Wundhaken und tue so, als ob ich diese sortieren würde.
Die beiden jungen Ärzte gehen ohne ein weiteres Wort hinaus. Ich höre Wilma seufzen.
„Alyson, gib mir mal das Skalpell da, bitte.", sie zeigt auf den Tisch vor mir.
Ich greife danach und gehe langsam zur Trage des weißen Mannes.
Nicht mal in irgendwelchen hirnlosen Serien im Fernsehen habe ich so etwas je gesehen.
Der Anblick fasziniert mich.
Wilma muss meinen Blick gesehen haben, „Eigentlich darf ich das nicht, aber ich erlaube dir zuzusehen, während ich die Obduktion mache. Wenn du das möchtest...".
„Ja! Ich meine... Ja, das wäre sehr nett.", ich lächle Wilma an.
Mit einem leichten Kopfschütteln reicht sie mir einen Mundschutz.
Als Wilma zum Y-Schnitt ansetzt, weht uns ein übelriechendes Gas entgegen. Ich trete ein Stück weg und selbst Wilma ist schockiert.
Wilma murmelt ein paar unverständliche Worte, die wie „...habe ich ja noch nie gesehen..." oder „...wie kann das sein?..." klingen.
Ich stehe wie gebannt daneben und verfolge Wilmas Bewegungen.

Plötzlich legt Wilma ihr Werkzeug ab. „Ich denke, ich bin fertig.", Wilma massiert sich wieder die Schläfe, „Die Todesursache ist ersticken. Seine sämtlichen Körperöffnungen sind... irgendwie zugewachsen... Ich habe so etwas noch nie gesehen, geschweige denn davon gehört! Es muss irgendeine neue Krankheit oder ein Gen-Defekt sein. Anders kann ich es mir nicht erklären. Ich muss... Alyson, warte hier, ich bin gleich wieder da.".
Damit geht Wilma aus dem Obduktionssaal.
Ich bin alleine mit dem weißen Mann. Er liegt ganz ruhig vor mir, er ist tot. Trotzdem kann ich meinen Blick nicht von ihm lassen.
Auf einmal beginnt sein Brustkorb sich zu heben. Ich höre eine Art röcheln. Er windet sich auf dem Tisch.
Schreiend stolpere ich rückwärts und stoße mit dem Rücken gegen ein Regal und falle auf den Boden. Keuchend bleibe ich sitzen, als die Tür aufgestoßen wird und Wilma zusammen mit einem älteren Arzt vor mir steht.
„Alyson! Was ist passiert?!", Wilma hilft mir hoch.
„Ich weiß es nicht... Ich dachte... ich hätte etwas gesehen. Entschuldigung, ich bin ein bisschen durcheinander...".
„Schon gut, mir tut es Leid. Ich hätte dich nicht hier allein lassen dürfen. Da ist es doch kein Wunder, wenn du Angst bekommst.", Wilma sieht mich sorgenvoll an.
Ich blicke verstohlen auf den ruhigen weißen Körper des Mannes.
„Alyson, wenn du möchtest, kannst du heute früher nach Hause gehen. Das war genug Aufregung für heute.", Wilma drückt beruhigend meine Hand.
Langsam nicke ich. „Okay, vielen Dank.", wie in Zeitlupe nehme ich meine Tasche und winke zum Abschied.

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