Kapitel 6 - Der Ursprung

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Jeder Mensch hat irgendwo seinen Punkt.

Seine Grenze.

Ich glaube, ich hab meine gefunden.

Oder eher: Ich bin mit Anlauf dagegen gerannt – und lieg jetzt dahinter.

Ich wundere mich ehrlich, dass ich überhaupt noch lebe.
Drei Tage ohne Schlaf. Kaum gegessen. Mein Körper ist leer. Mein Kopf ist ein einziger Nebel. Und meine Seele…?

Zerfleddert. Ausgelaugt. Kaputt.

Ich kann nicht mehr.

Ich kann einfach nicht mehr.

Als die Fremde mir gesagt hat, dass ich meine Schwester nicht retten kann…
Dass der Blutmond-Wurzelstock vielleicht gar nicht mehr existiert…

Ab diesem Moment ist alles verschwommen.

Ich weiß nicht, wie ich nach Hause gekommen bin.
Ob ich gelaufen bin. Gefahren. Geatmet habe.

Ich weiß nur, dass ich irgendwann vor der Haustür stand.
Irgendwie den Schlüssel gefunden hab.
Die Tür aufgeschlossen.

Und dann war’s vorbei.

Ich hab’s nicht mal mehr ins Bett geschafft.

Nur noch… gefallen.
Geradeaus in die Dunkelheit.
Und alles war schwarz.

POV: Unbekannt

Jedes Monster hat seine Entstehungsgeschichte.
Meine beginnt mit ihm.
Mit meinem Vater.

Er war kein Mann. Kein Wolf. Kein Wesen, das man je hätte verstehen können.
Er war etwas anderes. Etwas Dunkleres.
Ein Tier, das nie gezähmt wurde.
Ein Dämon mit Zähnen, der sich als Fleisch und Blut tarnte.

Die anderen nannten ihn einen Alpha.
Ich nannte ihn das Ende.

Er herrschte nicht – er zerstörte.
Er schuf keine Ordnung – nur Angst.
Er verlangte Gehorsam, nicht Respekt. Und wenn du ihn nicht sofort gabst, hat er ihn sich geholt. Mit Gewalt. Mit Schmerz.

Ich war sein Sohn.
Sein Blut.
Und damit sein Eigentum.

Er erzog mich mit Hieben, mit Hunger, mit Worten, die tiefer schnitten als jeder Schlag.
Liebe war ein Wort, das in seinem Maul nie existiert hatte.
Gnade kannte er nur aus Geschichten – um sie zu verhöhnen.

Ich lernte früh, was es heißt, nichts wert zu sein.
Und noch früher, wie man überlebt, ohne zu atmen.

Wenn ich fiel, ließ er mich liegen.
Wenn ich aufstand, schlug er härter zu.
Und jedes Mal sagte er mir, ich solle ihm danken.
Danken dafür, dass er mich stark machte.

Ich habe es geglaubt. Eine Zeit lang.

Bis ich aufhörte zu bitten.
Bis ich aufhörte zu hoffen.
Bis ich irgendwann verstand: Ich werde nie genug sein.
Nicht für ihn. Nicht für irgendwen.

Also wurde ich das, wovor er selbst gewarnt hatte.

Nicht sein Sohn.
Nicht sein Erbe.

Ich wurde das, was von mir übrig blieb.

.... 11 Jahre zuvor....

Er steht vor mir. Kein Wort. Kein Blick. Nur diese Stille, die schwerer ist als alles, was gleich kommt.

Ich spüre, wie sich mein Körper anspannt. Ganz automatisch.
Mein Rücken ist gerade, meine Hände ruhig.
Ich weiß, was passiert, wenn ich zucke. Wenn ich schlucke. Wenn ich wegsehe.

Seine Augen wandern über mich, kalt, prüfend.
Er sucht nicht nach Fehlern.
Er weiß, dass er sie findet.

„Was bist du?“, fragt er.
Nicht laut.
Nur so leise, dass es wehtut.
Weil ich die Antwort kenne. Weil sie nie richtig ist.

„Ein Sohn des Alphas“, sage ich.

Die Antwort ist falsch.
Ich weiß es, noch bevor seine Hand sich bewegt.

Ein Schlag – flach, präzise. Kein Wutausbruch. Kein Kontrollverlust.
Es ist Kalkül.
Eine Lektion.

Meine Wange brennt. Aber ich rühre mich nicht.
Wenn ich hinfasse, gibt’s den nächsten Schlag.
Wenn ich schreie – den dritten.

„Du bist kein Sohn. Du bist ein Werkzeug.“
Seine Stimme ist so ruhig, als würde er mir das Wetter erklären.
„Du bist das, was ich aus dir mache. Nicht mehr.“

Ich nicke. Weil ich muss.
Nicht, weil ich zustimme – sondern weil mein Körper gelernt hat, zu überleben.

„Du warst zu langsam gestern.“

„Ich werde schneller sein.“

„Du hast gezögert.“

„Ich werde nicht mehr zögern.“

Er geht einen Schritt näher. Ich rieche das Metall an seinen Händen.

„Du wirst gehorchen, ohne zu denken. Töten, ohne zu fragen. Atmen, wenn ich es erlaube. Und schweigen, wenn du schreien willst.“

Seine Hand greift nach meinem Nacken, drückt hart zu. Nicht um mich zu würgen – sondern um mir zu zeigen, wem ich gehöre.

„Wenn du noch einmal Schwäche zeigst“, zischt er, „reiß ich sie dir aus der Brust. Mit der Hand. Und du wirst es sehen.“

Ich nicke wieder. Meine Lippen sind trocken. Ich schlucke nicht.

Er lässt los. Dreht sich um. Kein weiteres Wort.
Ich bleibe stehen. Starre geradeaus. Zähle die Sekunden, bis meine Knie nachgeben dürfen.

Und selbst dann…
warte ich noch.

Weil ich nie sicher bin, ob er wirklich gegangen ist.

Pov Pia:

Mein Körper braucht mehr als nur Schlaf.
Meine Seele braucht mehr als nur Ruhe.
Aber ich bekomme nichts von beidem.

Ich weiß nicht, wie viele Stunden vergangen sind.
Ob es noch der gleiche Tag ist oder schon ein neuer – keine Ahnung.
Alles verschwimmt.
Alles ist schwer.
Nur das Gewicht auf meiner Brust spüre ich noch.

Ich wache erst auf, als mich jemand hochhebt.
Starke Arme. Warm. Vertraut.

Mein Vater.

Er will mich in mein Zimmer tragen, weg vom harten Boden, auf dem ich vor der Haustür eingeschlafen – zusammengebrochen – bin.

Ich öffne die Augen. Nur einen Spalt.
Sehe sein Gesicht.
Und starre ihn an, ohne ein Wort.
Ein ganzer Monolog in einem einzigen Blick: Warum seid ihr hier? Warum nicht bei ihr?

Meine Mutter antwortet, ohne dass ich etwas sagen muss.
Leise. Fast wie eine Entschuldigung.

„Tatia ist kurz aufgewacht. Nur für ein paar Minuten. Sie hat nicht gesprochen… aber sie hat reagiert.“
Ihre Stimme bricht fast.
„Die Ärzte haben beschlossen, sie ins künstliche Koma zu versetzen. Damit sie… vielleicht Zeit gewinnt. Vielleicht heilt.“

Ich sage nichts.
Weil es nichts gibt, was man dazu sagen kann.

Meine Mutter fährt fort, ihre Stimme jetzt flach, kontrolliert – wie ein Mensch, der das alles zum hundertsten Mal wiederholt, um sich selbst nicht zu verlieren.

„Es sah nicht gut aus. Aber Dr. Deaton hat noch Hoffnung. Sie testen gerade ein neues Medikament. Es ist noch nicht offiziell zugelassen, aber… es könnte helfen. Vielleicht.“

Vielleicht.
Wieder dieses Wort.

Ich lasse den Kopf wieder sinken.
Nicht zustimmend. Nicht ablehnend.
Nur leer.

The AlphaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt