"Bis morgen, Liv!", rief mir Anne zu, als unsere Wege sich an der Kreuzung trennten. Ich war zwar erst seit zwei Tagen auf der neuen Schule, glaubte aber mit Anne eine gute Freundin dazu gewonnen zu haben.
Eigentlich war sie bis jetzt auch meine einzige Freundin hier in der Gegend. Als wir hergezogen sind musste ich all meine alten 'Freunde' hinter mir lassen, was mir irgendwie auch erstaunlich leicht viel.
Meine Familie steckte noch mitten im Umzug und dementsprechend sah es bei uns zuhause auch aus. Im Flur stapelten sich bergeweise Kiste und eine Küche hatten wir noch nicht so wirklich, was bei den miserablen Kochkünsten meiner Mutter aber eigentlich gar nicht so schlimm war. Immerhin gab es seit wir hier wohnten bis jetzt so gut wie jeden Tag Pizza oder Hamburger.
"Hey, mein Schatz. Wie war's in der Schule?", nervte mich meine Mutter, während sie ein paar ihrer Bücher in das gestern aufgebaute Regal einräumte.
"Ganz okay, Schule halt.", grummelte ich zurück.
Wenige Minuten nachdem ich mich auf die Couch geschmissen hatte, um Fern zusehen, unterbrach meine Mutter meine Tagträume erneut: "Schaust du mal nach der Post, Liebling?"
Da ich wusste, dass das keine wirkliche Frage, sondern eher eine Aufforderung war, begab ich mich genervt stöhnend vor die Haustür.
Ich rechnete wie es auch gestern der Fall war, mit einem leeren Briefkasten, der geradezu auf die ersten Mahnungen, Rechnungen und Werbeschreiben wartete, die sich in den nächsten Tagen wohl noch bei unseren Nachmietern sammeln dürften.
Doch wieder Erwartens fand ich einen einzigen Brief, dazu noch mit meinem Namen drauf. Leider war auf dem Umschlag kein Absender angegeben und so musste ich ihn wohl aufmachen, bevor er im Mülleimer verschwinden würde. Konnte ja nur Werbung sein, welcher normale Menschen unter dreißig verschickte heute denn bitte noch etwas per Post. Mit der Absicht ihn später zu öffnen, ließ ich den Brief vorsichtig in meine Hosentasche fallen.
"Und?"
"Nichts, wie immer", antwortete ich merklich gereizt bevor es mich zurück auf die Couch zog.Ich schaltete einmal durch die Fernsehprogramme und landete schließlich bei einer dieser Pseudo-Reality-Shows. Die Story war aber mal wieder so schlecht, dass man bereits nach den ersten zehn Minuten das Ende erahnen konnte und so schaltete ich den Fernseher ab.
Seit wir hier her gekommen waren, herrschte in meiner Familie eine gewisse Spannung und diese würde vermutlich auch noch über die nächsten Tage anhalten. Während meine Eltern den ganzen Tag über versuchten Ordnung in das durch den Umzug herbeigeführte Chaos zu bringen, hatte ich genug damit zutun mich in der neuen Gegend einzufinden, die mir bis jetzt recht langweilig erschien.
Endlich auf meinem Bett liegend, das mir die langersehnte Entspannung bieten konnte, die ich den Tag über so vermisst hatte, blätterte ich durch ein paar Promi-Magazine, die mir meine Mom am gestern mitgebracht hatte. Die werden aber auch immer dünner, während der Vorbau gleichzeitig deutlich zu wachsen schien. Das kann sich doch keiner anschauen. Ich war zwar selbst recht dünn und zierlich, hielt von diesem ganzen Schönheitswahn der heutigen Zeit aber recht wenig.
Gelangweilt starrte ich in der Gegend rum. Meine Blicke wanderten durch den Raum, der noch so ganz ohne Pflanzen, Bilder und Dekorationen recht leer wirkte. Irgendwas müsste doch heute noch anstehen, Hausaufgaben gab es zu meinem Glück noch keine, aber da war doch noch irgendwas.
Als ich meine Hände in die Hosentaschen gleiten ließ, fiel es mir plötzlich wieder ein. Der Brief, immer noch ungeöffnet und jetzt deutlich zerknittert, wartete gerade zu darauf endlich geöffnet zu werden.
Es war ein zusammengefaltetes Collageblockblatt und die blass graue Handschrift ließ erahnen, dass es sich um eine Fotokopie handelte. Als ich anfing zu lesen, stockte mir der Atem und nach den ersten Zeilen begann mein Herz wie verrückt gegen meine Brust zu schlagen.
Das was ich da bekommen hatte war eindeutig keine Werbung. Zitternd kauerte ich auf meinem Bett, während meine Augen die Worte nahezu verschlungen. Tausende Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich hatte nie zuvor einen Abschiedsbrief gelesen und ich hätte nie gedachte, dass Worte einen so traurig machen konnten, einen so mitreißen konnten.
Doch es war die schmerzhafte Realität, die sich dort in Form von Buchstaben abgebildete. Ein Junge aus meinem Jahrgang hatte sich das Leben genommen und das ausgerechnet jetzt, wo ich gerade neu auf die Schule gekommen war. Ob er es wirklich gemacht hatte? Hätte man es nicht in der Schule bekannt gegeben? Oder wusste es noch keiner?
Eine Träne lief mir über die Wange, ich schob den Brief unter mein Kopfkissen und zog mir die Bettdecke bis über die Stirn. De Gedanke an den Jungen ließ mich einfach nicht los. Irgendjemand hätte ihm doch helfen können. Hätte ich ihn doch bloß früher gekannt, dann hätte ich alles in meiner Macht stehende dafür getan um es zu verhindern.
Michael, so hieß der Junge. Im Brief hatte er niemandem namentlich erwähnt, aber ich war mir ohnehin sicher ihn nicht zu kennen. Ich trug keine Schuld an seinem Tod, dafür aber vermutlich der gesamte Rest der Schule. Ob Anne ihn gekannt hatte?
Irgendwie konnte ich ihn verstehen und doch konnte ich es nicht nachvollziehen, dass sich jemand freiwillig das Leben nahm. Hätte man das nicht verhindern können?
Nirgends war ein Alter angegeben, aber da diese Schule nur bis zur zehnten Klasse ging, schätzte ich ihn auf fünfzehn bis sechzehn. In so jungen Jahren zu sterben war eine schreckliche Vorstellung, wo man doch noch so viel vor sich hat. Ich war der festen Überzeugung, dass man ihm hätte helfen können. Aber jetzt war es vermutlich sowieso zu spät. Niemand hatte im geholfen und so hat er es letztendlich selbst getan, auf seine Weise.
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Beyond Death [pausiert]
Ficção AdolescenteAls die 16-jährige Liv den Abschiedsbrief ihres Mitschülers Michael findet, beginnt sie sich über sein Leben zu informieren und baut langsam eine Beziehung zu dem Toten auf. Dies ist die Geschichte eines Jungen, der keinen Ausweg mehr sah, seinem Le...